Darwin und Foucault: «Darwin baut die Brücke zwischen Kultur und Natur»

Nr. 7 –

Der Zürcher Historiker Philipp Sarasin liest die beiden Autoren parallel - und denkt über die Rolle der Kulturwissenschaften in Zeiten krachender Banken nach.


Unter den unzähligen Büchern, die im Darwin-Jahr 2009 erscheinen, gehört «Darwin und Foucault» des Historikers Philipp Sarasin zweifellos zu den originellsten. Im Vorwort nennt es Sarasin ein «Experiment», zwei der «aggressivsten ‹Säuren› der Theoriebildung in eine Schale zu giessen». Für Sarasin stammt Michel Foucault, wie es auf dem Klappentext heisst, «von Darwin ab». Weder Darwin noch Foucault hätten zwischen Natur und Kultur eine scharfe Grenze gezogen - und so liegt denn die ironische Pointe des Buchs darin, dass Sarasin Foucault gegen die (foucaultianischen) KulturalistInnen liest, für die alle Realitäten letztlich nur Zeichen und Diskurse sind, und Darwin gegen die (darwinistischen) BiologistInnen, die glauben, der Mensch lasse sich allein aus der Biologie respektive der Evolution heraus verstehen. Das wird etwa dort besonders lustvoll, wo Sarasin dem Turbo-Darwinisten und missionarischen Atheisten Richard Dawkins nachweist, dass er in seinem Weltbild eigentlich nicht auf einen Gott verzichten könne ...

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WOZ: Sie schreiben gegen Biologismus und Kulturalismus - das ist das Programm des gesunden Menschenverstands gegen zwei unvernünftige Weltsichten. Braucht es dazu 420 gelehrte Seiten?

Philipp Sarasin (lacht): Ich plante einen Essay von achtzig Seiten. Der Biologismus und der Kulturalismus sind in der Tat unvernünftige Ideologien in dem Mass, in dem sie sich absolut setzen. Aber wenn man sie ablehnt, muss man genau argumentieren. Anhand von Foucault und Darwin zu zeigen, dass es ein Denken dazwischen gibt, braucht Zeit.

Und dazu beriefen Sie sich auf die beiden Kronzeugen der jeweiligen Ideologie.

In der Tat wird Foucault als Kronzeuge des Kulturalismus eingesetzt, für den alles nur «Diskurs» ist. Zu Unrecht: Foucault sagte immer deutlich, dass er nicht einfach an die Welt der Zeichen glaubt. Bei Darwin musste ich selber erst realisieren, dass er fälschlicherweise als Kronzeuge des Biologismus gilt.

Weshalb?

Weil sich nicht alles in der Evolution aus dem Kampf ums Überleben erklärt - zumindest für Darwin nicht. Für Darwin gibt es neben der natürlichen Auslese ein zweites Selektionskriterium, die sexuelle Wahl. Diese ist meistens Damenwahl: Das Weibchen wählt das Männchen, und es wählt Schönheit, es wählt ästhetische Zeichen. Das ist fundamental: Das, was wir Kultur nennen, hat eine Wurzel in der Biologie. Wir Kulturwissenschaftler müssen unsere Theorien deshalb kompatibel machen mit der biologischen Erkenntnis.

Die Partnerwahl als kulturelles Element der Evolution: Strapazieren Sie da den Kulturbegriff nicht allzu sehr?

Nein, aus drei Gründen: Erstens haben diese Zeichen - die Ornamente wie das Federkleid eines Vogels - keine stabile Bedeutung. Das Weibchen ist «frappiert», wie Darwin schreibt. Was es sich dabei denkt, wissen wir natürlich nicht, aber das Ornament drückt auf jeden Fall nicht Überlebenstauglichkeit aus. Zweitens sind diese Zeichen radikal beliebig, von Tierart zu Tierart verschieden, obwohl sich sonst in der Evolution ja immer wieder bestimmte Muster stabilisieren. Drittens verschieben sich die Zeichen historisch. Genau die drei Elemente machen das aus, was Jacques Derrida als das Wesen des Zeichens sieht und wofür er seinen Kunstbegriff der «différance» schafft.

Die Darwin-Rezeption scheint das übersehen zu haben.

Ja, obwohl Darwin im Vorwort zur «Abstammung des Menschen» von 1871 betonte, dass es ein Fehler gewesen sei, alles auf die natürliche Zuchtwahl zu setzen. Denn damit lasse sich die Pfauenfeder nicht erklären. Das ging in der Rezeption aber unter, weil das Faszinosum der Erklärung, dass der Tüchtigere gewinnt, einfach zu gut in eine so hierarchische und militaristische Gesellschaft passte, wie sie vor allem Deutschland im späten 19. Jahrhundert war. Und Darwins Mitstreiter Alfred Russel Wallace meinte, es sei gar nicht möglich, dass Weibchen eine solche Kraft hätten, Männchen zu beeinflussen. Darwins Idee war just zwei Jahre, nachdem sich die Sufragetten (Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht, Red.) in England organisiert hatten, eine Provokation.

Das Selbstverständnis der Zeit war auch das des Wirtschaftsliberalismus, und dass die Evolution nicht zielgerichtet verlaufe, wie Darwin postulierte, passt zur Metapher der «unsichtbaren Hand» von Adam Smith. Die Vorstellung, Darwin habe einfach die kapitalistischen Ideen in die Biologie übertragen, nennen Sie in Ihrem Buch aber eine «Schlaumeierei». War es denn nicht so?

Das war zumindest nicht Darwins Thema. Darwin lebte gar nicht so sehr in der Welt der kleinen Unternehmen, die auf dem freien Markt miteinander konkurrieren, sondern er erlebte den Kapitalismus vor allem in Form des imperialen Seehandels. Und Darwins Theorie ist zu komplex und zu gut auf Daten gestützt, um einfach eine Übertragung des Wirtschaftsliberalismus zu sein. Aber durchaus: Darwins Ideen passen in die Welt des Liberalismus, in diese Welt der Offenheit der Gesellschaft, der relativen Planlosigkeit der Entwicklung. Und interessanterweise ist auch Foucaults Verständnis der Macht als unstrukturierte, ungerichtete Kräfteverhältnisse dem sehr nah.

Dieses Ungerichtete in der Evolution festzustellen, war Darwins Hauptleistung - die Idee, dass Arten sich entwickeln, bestand schon länger. Für Darwin ist Evolution nicht als Fortschritt zu verstehen. Aber sehen wir uns nicht heute noch als Krone, wenn nicht der Schöpfung, so doch der Evolution?

Ich schrieb mein Buch unter anderem genau deshalb, weil ich glaube, diese zentrale Idee Darwins sei nie wirklich angekommen. Die Rezeption Darwins lief stark über Deutschland mit Ernst Haeckel, und Haeckel und seine Mitstreiter sahen die Evolution immer mit der romantischen Naturphilosophie, mit Goethe und Schelling im Hintergrund; man könnte auch sagen: Ihr Evolutionsverständnis ist Darwin plus Hegel. Für sie verläuft die Geschichte in dialektischen Synthesen. Dass wir in einer Welt voller ungeordneter Ereignisse leben, wie Foucault sagt, denen kein tieferer Sinn innewohnt, das ist viel schwieriger zu akzeptieren.

Sie kamen von Foucault auf Darwin. Wie das? Was haben die beiden gemein?

Ich befasste mich mit dem Konzept der Genealogie bei Foucault, als ich auf einer Ferienreise Darwin las. Da merkte ich, dass Foucaults Konzept genau Darwins Vorstellung der ungeplanten Entwicklung mit ihren Diskontinuitäten und offenen Kräfteverhältnissen entspricht.

In Ihrem Buch polemisieren Sie gegen den Glauben der Kulturalisten in den neunziger Jahren, man könne den Menschen verstehen, ohne sich für Biochemie interessieren zu müssen. Als Referenz für diesen Glauben nennen Sie Ihre eigene Habilitationsschrift!

Es war in den neunziger Jahren wichtig zu sagen: Wir müssen wegkommen von der Annahme, dass die Realität im landläufigen Sinn einfach als solche beschreibbar sei. Das weiss man zwar eigentlich seit Kant, aber man musste es noch einmal ganz deutlich sagen. Nun könnte man diese Zeichenspiele unendlich weiterspinnen - aber die Wirklichkeit bleibt dabei irgendwann auf der Strecke. Heute gibt es deshalb eine Wende. Die Kulturwissenschaftler sprechen wieder von «Präsenz», von «Evidenz» und vom «Realen»; sie suchen wieder Bodenhaftung. Ich sehe mich als Teil dieser Bewegung. Ich finde Foucault deshalb interessant, weil er eben nie vollständig Kulturalist war. Er glaubte durchaus, dass etwa die Genetik Realität beschreibt. Und Darwin hat die Brücke gebaut zwischen Kultur und Natur.

Sie haben Ihr Buch gegen zwei sehr unterschiedliche Gegner geschrieben. Biologistische Erklärungen sind sehr populär und entsprechend wirkungsmächtig. Der Kulturalismus dagegen findet im Elfenbeinturm statt.

Ja. Wir dürfen nicht im Elfenbeinturm bleiben, auch weil wir uns fit machen müssen für die Auseinandersetzung mit den Biologen. Aber wir können auch nicht einfach sagen, jetzt beschreiben wir halt wieder, was ist. Die Kulturwissenschaften haben schon zeigen können, dass Realität von Zeichenprozessen mitproduziert wird - so wie bei Darwin die ästhetische Wertschätzung der Tierweibchen Körper verändert. Dahinter können wir nicht zurück.

Dass eine Wissenschaft die Wirklichkeit aus den Augen verlieren konnte, ist eigentlich unglaublich. Dasselbe ist aber, wie Sie kürzlich in einem Zeitungsartikel geschrieben haben, auch in der Finanzwirtschaft geschehen.

Zeitungsartikel schreibt man, um mal einen Gedanken auszuprobieren ... Selbstverständlich gibt es auch in der Wirtschaft nicht einfach nur das Reale. Erwartungen, Wetten - also Imaginationen - sind Elemente, die in jedem marktwirtschaftlichen System existieren und realwirtschaftliche Effekte haben. Aber man darf die Realwirtschaft darob nicht vergessen. Das scheint, ganz wie in den Kulturwissenschaften, eine Frage des Masses zu sein.

Wenn die Ökonomie abgehoben ist, so doch wohl deshalb, weil der Teil der Welt, in dem die Ökonomie gemacht wird, seit sechzig Jahren ohne Knappheitserfahrungen lebt ...

... und die Kulturwissenschaften entstanden in einer Welt, in der die Industrie auszog und die Kulturindustrie die leeren Fabriken bezog. Ja, das ist ein interessanter Gedanke.

Und nun kehren Knappheitserfahrungen zurück - mit der Wirtschaftskrise, der Klimakrise, der Nahrungsmittelkrise, mit Peak Oil.

Ausgangspunkt für meinen Zeitungsartikel waren in der Tat Fernsehbilder aus Nevada, wo Menschen, die ihre Hypothekarzinsen nicht mehr bezahlen konnten, im Zelt leben. Und das ist nicht die ferne Dritte Welt, das ist unsere Welt. Wenn es gelingt, die kulturwissenschaftlichen Werkzeuge, die wir entwickelt haben, ohne den ideologischen Überschwang auf Themen wie Knappheit und Armut anzuwenden, dann könnte es interessant werden. Auch auf ethische Fragen: Ethik war ja auch nicht unsere Stärke, es war für uns Kulturwissenschaftler ja alles relativ. Aber ich muss sagen, da bin ich an einem Punkt, wo ich auch nicht weiss, wie es weitergehen soll. Da wurden wir etwas auf dem linken Fuss erwischt.


Philipp Sarasin

Philipp Sarasin ist Professor an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich und Mitglied des Zentrums für die Geschichte des Wissens von Uni und ETH Zürich.

Philipp Sarasin: «Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeichen der Biologie». Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2009. 456 Seiten. Fr. 44.90.