Überwachung: Wenn die kleinen Brüder zusammenspannen

Nr. 43 –

Am Samstag werden zum zehnten Mal die Big Brother Awards verliehen. Überblickt man die bisherigen Preisträger, dann fällt auf: Eine Reihe verdienter Datensammler ging ein ums andere Mal leer aus. Eine nachträgliche Würdigung.


Der Kalte Krieg war längst Geschichte, die Fichensammler entlarvt, und ausgefuchste Spionagetricks wurden vor allem von Hollywood-Drehbuchautoren entwickelt. Der grosse Bruder hatte sich diskret zurückgezogen – bis 9/11. Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001 hat das grosse behördliche Datensammeln eine Renaissance erlebt. Das widerspiegeln auch die Big Brother Awards: In der Kategorie «Staat» wurden der Bundesrat wie das Militärdepartement mehrfach ausgezeichnet. Bezeichnend war die Verschärfung des «Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit», wofür der Bundesrat 2006 und 2007 gleich zweimal den Hauptpreis abräumte.

Also eigentlich alles beim Alten: die alte Paranoia mit neuen Vorzeichen. Man könnte auch sagen: Im Westen nichts Neues.

Allerdings, und das haben die Big Brother Awards noch kaum gewürdigt: Da ist durchaus etwas Neues, und es kommt eindeutig von Westen. Der grosse Bruder ist immer noch am Werk, aber es ist eine ganze Schar kleiner Brüder hinzugekommen. Es werden heute mehr Daten gesammelt als je zuvor – 9/11 hätte es dazu gar nicht gebraucht. Der Staat als Überwacher hat private Konkurrenz bekommen. Eine kaum mehr überschaubare Zahl von Firmen macht sich über uns kundig, und zwar nicht aus staatsschützerischem, sondern aus ganz profanem kommerziellem Interesse. Vorreiter in Sachen private Datenspionage sind die USA. Doch sie ist längst auch hierzulande Alltag.

Digitale Heinzelmännchen

Es sind im Wesentlichen zwei Sorten von Datenhäschern zugange: Erstens die Technikfanatiker, die das elektronische Dienstleisten revolutionieren möchten und die dabei die Schutzbedürfnisse der Kundinnen gern vergessen – Stichwort «Google». Zweitens die nüchternen Risikominimierer im Hintergrund, die nichts Revolutionäres im Sinn haben, bloss ein möglichst reibungsloses Geschäft.

Vom Treiben Ersterer merken wir am ehesten etwas – sie bescheren uns allerlei digitale Heinzelmännchen. Die Datensammelwut vieler Online-Firmen wird uns genau mit diesem Argument schmackhaft gemacht: Das man möglichst viel über die Nutzerinnen wissen müsse, um die Dienste laufend zu verbessern. Dass die Konsumenten also, indem sie viel von sich preisgeben, umso besser bedient werden können. Es ist die Idee von der Lieblingsbuchhändlerin, die die Vorlieben und Macken ihrer Kunden bestens kennt und ihnen Bücher massgeschneidert empfiehlt. Vielen leuchtet das ein – Bequemlichkeit und «Mehrwert» geht vor Datenbedenken. Marketingfirmen, vor allem solche, die im Online-Markt tätig sind, finden das grossartig. Die Marktführer, wie Acxiom aus den USA, sind schon seit über zehn Jahren im Geschäft und arbeiten längst global. Aber auch in der Schweiz gibt es Nachahmer, zu nennen wäre etwa das Werbebüro IP Multimedia in Küsnacht.

Sorgen muss uns dabei zweierlei bereiten. Erstens weiss man nie genau, was die Firmen mit den gewonnenen Daten und den daraus destillierten Persönlichkeitsprofilen so alles anstellen (wird alles nur intern verwendet, oder wird damit auch Handel getrieben?). Und zweitens wecken detaillierte Datensätze natürlich Begehrlichkeiten. Vor ein paar Jahren bestritt einer der Google-Chefs in einem Interview, dass Google Daten an Behörden weitergebe. Der Interviewer hakte nach und rief den Patriot Act in Erinnerung, das US-amerikanische Gesetzwerk, das kurz nach 9/11 durchgepeitscht worden ist und das jede Firma verpflichtet, mit dem FBI zusammenzuarbeiten. Das Gesetz verpasst Firmen überdies einen Maulkorb, sollte es zu einer Zusammenarbeit gekommen sein. Google müsste also eine allfällige Weitergabe von Daten auf jeden Fall dementieren. Ja, das sei richtig, sagte darauf der Google-Boss.

Auch Schweizer Beamte schielen auf solche Datensätze. So mehren sich Anfragen an Mobilfunkanbieter und Internetprovider, ihre Verbindungsdaten den Untersuchungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Die diesbezügliche Gesetzeslage ist verworren.

Die zweite Gruppe betreibt die Datenjonglage gern ohne viel Aufhebens. Die Diskretion hat ihren Grund: Vom Treiben dieser Firmen möchte man am liebsten gar nichts mitbekommen, denn positiv werden sie einem nie auffallen. Um noch einmal auf die Buchhändlerin zurückzukommen: Wenn sie jemanden beim Bücherklau beobachtet hat, wird sie ihm das nächste Mal sofort die Türe weisen. Sie wird das nicht aus betriebswirtschaftlichem Kalkül tun, sondern um sich Ärger zu ersparen. Die Buchhändlerin betreibt so, ohne sich dessen bewusst zu sein, Risikomanagement.

Dasselbe tun Firmen, die sich wie die Buchhändlerin Ärger (das heisst Umtriebe und Kosten) ersparen wollen: Sie sammeln Informationen über konsumatorische Risikogruppen, über säumige Zahler beispielsweise und Leute mit unklarem Wohnsitz. Die einzelne Kundin interessiert dabei allerdings wenig, schon gar nicht ihre ganz individuelle Geschichte. Risikomanagement im grossen Stil bedeutet automatisierte Profilbearbeitung und Wahrscheinlichkeitsrechnung, geadelt oder verteufelt wird nach klaren Algorithmen und in Sekundenbruchteilen.

Misstrauische Staatsapparate gehen ähnlich vor: Wer verdächtig auffällt (also aus Sicht der Staatsschützer ein Risiko darstellt), wird observiert und erfährt allerlei mehr oder minder unangenehme Sonderbehandlungen. In die Mangel eines politischen Geheimapparats zu kommen, fürchtet in unseren Breitengraden kaum mehr jemand, und ebenso wenig fürchten wir die Konsumgeheimdienste. Zumindest Letzteres allerdings zu Unrecht, denn die Gefahr, auf einer konsumatorischen Fahndungsliste aufzutauchen, ist jederzeit gegeben. Sei es, weil man eine falsch zugestellte Rechnung ignoriert, sei es, weil man die falsche Mitbewohnerin hat. In der Internetrasterfahndung bleiben eine ganze Menge Leute hängen, die sich nie etwas haben zuschulden kommen lassen. Durch die rein betriebswirtschaftliche Brille betrachtet, ist daran nichts verkehrt: Gelingt es einer Firma, Risiken geschickt auszuschliessen, so wird die Rechnung am Schluss besser aussehen. Dass man dabei den einen oder anderen potenziellen Kunden verprellt, ist zu verschmerzen.

Lasche Bestimmungen

Das Problem dabei: Je mehr sich solche Konsumprofile verbreiten, desto schwieriger wird es für die «Ausgeschlossenen»: keine Wohnung, keine Kreditkarte, keine Flugreise, kein Handyabo mehr. Auch in der Schweiz schiessen Firmen, die derlei Kundeneinschätzungen anbieten, wie Pilze aus dem Boden, und einige davon (wie zum Beispiel Deltavista) sind auch schon negativ aufgefallen. Mit der Justiz kommen sie aber nur selten in Konflikt: Die Datenschutzbestimmungen sind lasch, und die Behörden schauen allzu oft nicht wirklich genau hin.

Also machen die kleinen Brüder weiter mobil – und spannen immer mehr zusammen. Unlängst gab es Berichte, dass erste Datenprofiler beginnen, Online- und Offline-Identitäten zu verknüpfen. So dürften auch unsere Netzgewohnheiten bald sehr reale Auswirkungen haben. Auf diese Weise werden die kleinen Brüder ihrerseits zu einem einzigen, sehr grossen Bruder. Unser Unbehagen hält mit dieser Entwicklung nicht Schritt. Nach wie vor sind wir staatlichen Schnüffelein gegenüber sehr empfindlich, während wir den privaten Datensammlern die Informationen, nach denen sie suchen, nur so vor die gierige Schnauze werfen.


Von Tarmed bis zur Marzili-Bahn

Die Big Brother Awards (BBA) werden in drei Kategorien verliehen. Bei den beiden Kategorien «Staat» und «Arbeitsplatz» geht es um Überwachung im klassischen Sinn: einmal von ganz oben, einmal vonseiten der Chefs, die ihre Angestellten immer stärker im Auge haben, sei es mit Kameras oder per Online-Kontrolle.

In der Kategorie «Business» wird der Privatwirtschaft beim Datensammeln auf die Finger geschaut. Dabei fällt auf, dass der Gesundheitssektor immer wieder zu Ehren gekommen ist, unter anderem im Zusammenhang mit dem Tarifsystem Tarmed.

Lässt Christoph Müller, einer der BBA-Organisatoren, die letzten zehn Jahre Revue passieren, erinnert er sich an den «Einschnitt» nach dem 11. September 2001 – damals seien viele neue Gesetze und Regelungen gekommen, der Staatsschutz sei aufgewertet worden. Er argwöhnt aber, dass «die Pläne schon in der Schublade waren», dass also einfach eine gute Gelegenheit genutzt worden sei. Es verlaufe immer nach demselben Muster: «Sobald eine Technik vorhanden ist, wird sie auch genutzt. Zunächst wird in einer jurististischen Grauzone operiert – gibt es Kritik, werden die Verfahren nachträglich legalisiert, mit dem Verweis, dass dadurch die Sicherheit erhöht wird.»

Überhaupt sieht Christoph Müller eine Tendenz hin zu mehr Bespitzelung, und zwar quer durch die Gesellschaft. Er erwähnt den Fall der Marzili-Bahn in Bern, wo zur allgemeinen «Fahndung» das Überwachungskamerabild eines Schwarzfahrers publik gemacht wurde.

Und warum sind die kommerziellen Datensammler noch kaum geehrt worden? Die BBA-Macher seien angewiesen auf konkrete «Storys», sagt Müller, auf eigentliche kleine Datenskandale, um die Vergabe eines Awards zu rechtfertigen. Die Machenschaften der digitalen Spurensammler sind dagegen noch meist diffus, und der gesellschaftliche Schaden, den sie anrichten, ist schwer zu belegen. Aber, da ist auch Müller überzeugt: Lang wird das nicht mehr so bleiben.

Die 10. Big-Brother-Award-Verleihung findet diesen Samstagabend in der Roten Fabrik in Zürich statt. Parallel dazu läuft noch bis und mit Samstag in der Shedhalle eine Aktionswoche unter dem Titel «Vom Überwachen der Überwacher». Eine Ausstellung präsentiert Award-Highlights, dazu gibt es Diskussionen und künstlerische Interventionen. Mehr Informationen auf www.bigbrotherawards.ch.