Globale Erwärmung: Kartoffeln auf der Skipiste

Nr. 5 –

Am Chacaltaya-Gletscher in den bolivianischen Anden lag einmal das höchste Skigebiet der Welt. Bevor er geschmolzen ist.


Das Drahtseil hängt noch. Samuel Mendóza schaut durch eine zerbrochene Fensterscheibe auf den steinigen Hang, der einmal eine Skipiste war. Hie und da liegt noch etwas Schnee auf dem rötlichen Geröll. Doch darauf kann niemand Ski fahren.

Samuel Mendóza legt seine Hände auf den Schalthebel, wie früher, als das Fenster noch nicht zerbrochen war und er von hier aus den 900 Meter langen Schlepplift bediente. Nicht wie jemand, der sehnsüchtig zurückdenkt, eher wie jemand, der aus Gewohnheit handelt. Er hat sich abgefunden. Es war ohnehin kein einfach zu fahrender und zu steuernder Lift gewesen; für AnfängerInnen musste er beim ersten Buckel bremsen, damit sie auch oben ankamen. Hier im Häuschen hat er gewohnt, geschlafen und den schwedischen Sechszylindermotor gewartet, immer viel Frostschutzmittel reingekippt. Dann stürzte plötzlich einer der Pfeiler des Schlepplifts um, das war vor zehn Jahren. Seitdem gibt es keinen Skilift mehr und auch keinen Liftwärter. Reparieren lohne sich nicht, sagt Mendóza. Es fahren ja doch nicht mehr genug Leute, und wann liegt schon mal Schnee. Letztes Jahr ist die Skisaison fast ganz ausgefallen. Januar, Februar, März, nichts als Stein. Pura piedra. Im April fiel ein bisschen Schnee, viel zu spät und viel zu wenig. Dieses Jahr fängt besser an, aber es ist doch aussichtslos.

Der erste Skilift Südamerikas

Draussen vor der Hütte eine Pyramide aus Glas, die Scheiben zerbrochen. Vor Jahren konnte man im Innern Sauerstoff tanken, wenn man sich in der Höhe übernommen hatte. Und das passierte nicht selten, schliesslich liegt Chacaltaya auf rund 5300 Metern – es war das höchstgelegene Skigebiet der Welt. «Viele Leute haben hier Probleme, sie übergeben sich am ersten Abend und können nicht schlafen», erzählt Samuel. Seit der Lift nicht mehr läuft, arbeitet er als Hüttenwirt in der Cabaña de Chacaltaya, die der bolivianische Andenverein hier oben unterhält. Es gibt Betten für 22 Gäste, einen offenen Kamin, Küche, Speisesaal. Eine steile Schotterstrasse führt hinauf bis vor die Tür. Wer hier übernachtet, will die Aussicht über den endlosen Altiplano aufsaugen oder sich für einen Anstieg auf den Sechstausender Huayna Potosí akklimatisieren. Zum Skifahren kommen die wenigsten. Auch wenn Schnee gefallen ist, gibt es nur noch eine kurze, 45 Grad steile Piste und einen kaputten Lift. Wer in Südamerika Ski fahren will, macht das anderswo, im argentinischen Bariloche oder in Osorno, Portillo oder Antillanca in Chile. Jedenfalls nicht in Bolivien.

Dabei war der Chacaltaya früher eine Legende. 1939 gründete der aus einer österreichischen Familie stammende Ingenieur Raul Posnansky den bolivianischen Andenverein und baute die erste Hütte am Chacaltaya-Gletscher. Hier gab es 1942 den ersten Skilift Südamerikas, fanden die ersten Skimeisterschaften des Kontinents statt, trainierte die bolivianische Nationalmannschaft. Dem Andenverein gehörten vor allem reiche Leute aus der nahen Hauptstadt La Paz an, die hier ihre Wochenenden verbrachten, auch wenn Chacaltaya im Vergleich zu alpinen Skiresorts immer spartanisch blieb. Später kamen TouristInnen aus aller Welt, die auf der höchstgelegenen Piste der Welt fahren wollten. Posnansky selbst konnte die glorreichen Jahre des Skisports in Bolivien nicht mehr miterleben, er starb 1942 unter einer Lawine. Damals gab es noch ausreichend Schnee für Lawinen, und der Verein verkaufte Gletschereis an eine Limonadenfabrik in La Paz. Auf historischen Fotos von 1940 ist noch ein grosses Eisfeld zu erkennen. Seither wurden Eis und Schnee immer rarer, in den neunziger Jahren gaben ForscherInnen dem Gletscher noch bis 2015. Dann würde er abgetaut sein, sagten sie. Doch er ist schon jetzt verschwunden, schneller als erwartet. Nur vereinzelte Eisbrocken sind noch übrig. Und die bolivianische Skinationalmannschaft trainiert im Exil in Bariloche.

Wie für Chacaltaya zählen WissenschaftlerInnen auch für andere tropische Gletscher in den Anden bereits die Jahre, bis sie geschmolzen sind – den meisten geben sie weniger als zwanzig. Für die Gletscher im Himalaya sind ähnliche Schätzungen der Klimaforscher allerdings gerade in die Kritik gekommen. «Wir befinden uns in der Nähe des Äquators, die Gletscher gibt es nur wegen der Höhe, aber die Temperatur steigt hier auch schneller», sagt Juan de Dios Guevara, der seit ein paar Monaten Präsident des bolivianischen Andenvereins ist. «In dreissig Jahren können wir hier oben wahrscheinlich einen Gartenbauverein gründen und Kartoffeln anbauen.» Auch wenn es so weit nicht kommen wird, eines steht fest: Den Anden steht durch die globale Erwärmung ein massiver Landschaftswandel bevor, der auch Folgen für den Tourismus haben wird. Etwa wenn Berge wie der Illimani über La Paz ihre fotogene Schneekappe oder ihren Reiz für BergsteigerInnen verlieren.

Gefährdete Trinkwasserversorgung

Wir steigen über den Grat auf zum höchsten Gipfel des Chacaltaya-Massivs, auf 5421 Meter. Von hier schaut man bis zum Titicacasee, auf die (noch) weissen Gipfel der Königskordillere und die Armenstadt El Alto oberhalb von La Paz, ein wucherndes Häusermeer auf gut 4000 Metern. Wie für viele andere Städte in den Anden wird die Gletscherschmelze für El Alto eine bedrohliche Wasserknappheit mit sich bringen. Die wachsende Beinahe-Millionenstadt bezieht ihr Trinkwasser zu einem grossen Teil aus den schmelzenden Gletschern. Und ist kein Einzelfall: Insgesamt ist laut Weltbank in den Anden die Wasserversorgung von rund dreissig Millionen Menschen gefährdet.

Kokatee am offenen Kamin in der Cabaña de Chacaltaya. Es kommen nur noch wenige Gäste, seit der Schnee ausbleibt. «Im Moment kostet uns die Hütte mehr, als sie einbringt», erzählt Guevara. Doch das soll sich ändern. Über Jahrzehnte haben die reichen Mitglieder das Skigebiet und die Hütte subventioniert. «Die Leute sind jetzt alt geworden, und der Verein muss sich weiterentwickeln», sagt er, der selbst erst 26 Jahre alt ist. Er will mehr junge Leute erreichen. Wenn in der Skisaison auf kleinen Flächen Schnee liegt, bietet er Ski- und Snowboardkurse für den Nachwuchs an. «Wir wollen den Skisport in Bolivien auf keinen Fall verlieren», sagt Juan. Doch auch Bergsport, Wandern und Klettern sind in Bolivien in den letzten Jahren in Mode gekommen, und der Verein stellt sich darauf ein, bietet etwa geführte Wandertouren an.

Und entdeckt sein Erbe als Naturschutzverein. «Auf dem Papier sind wir seit 1949 für ein riesiges Schutzgebiet bis zum Titicacasee verantwortlich, alles oberhalb von 4000 Metern», sagt Guevara. «Wir haben für dieses Gebiet eine Bergwacht gegründet, aber für den Naturschutz gibt es keine Mittel.» Immerhin organisieren die Mitglieder Reinigungskampagnen mit Freiwilligen, etwa auf dem Gipfel des Huayna Potosí, den jedes Jahr um die 20 000 TouristInnen besteigen. «Dort oben sieht es aus wie auf einer Müllhalde, darum kümmert sich sonst niemand.»

Kunstschnee wäre zu teuer

Um den Skisport in Bolivien steht es schlecht. Chacaltaya ist das einzige Skigebiet Boliviens, und der Schnee, der heute noch fällt, könnte schon in ein paar Jahren ausbleiben. Eine Studie hat ergeben, dass Kunstschnee eine Lösung sein könnte. Technisch möglich zwar, aber viel zu teuer. Allein die Installation der Schneekanonen würde etwa 370 000 Franken kosten, ohne Betriebskosten und Wartung – für den kleinen Verein eine astronomische Summe. «Es gibt in Bolivien ganz andere Dinge, für die kein Geld da ist», sagt Juan. Auch an eine Erschliessung neuer Skigebiete auf schneesicheren Bergen wie dem Mururata oder dem Charquini bei Chacaltaya ist daher vorerst nicht zu denken.

Man konzentriert sich also auf Alternativen. Ein Zentrum für Höhentraining mit Sportunterkünften ist geplant. Mexikanische OlympiasportlerInnen kommen schon jetzt regelmässig her, um rote Blutkörperchen zu tanken. Vielleicht wird es eine kleine Sternwarte geben, und in der roten Hütte, wo Samuel früher den Lift gesteuert hat, soll ein Museum zum Klimawandel entstehen. «Wer nicht an die globale Erwärmung glaubt, kann herkommen und es sich bei uns anschauen», sagt Juan. «Wir sind sozusagen die Visitenkarte des Klimawandels.» Mit Fotografien und wissenschaftlichen Belegen soll die Ausstellung das Gletscherschmelzen nachvollziehbar machen und an die Zeiten des Skisports hier erinnern. Wenn das Geld zusammenkommt, schon 2010, im Jahr eins nach dem Chacaltaya-Gletscher.


Reisehinweis

Chacaltaya liegt rund 35 Kilometer von La Paz entfernt und ist per Auto in knapp zwei Stunden zu erreichen. Eine Übernachtung in der einfachen Cabaña de Chacaltaya kostet umgerechnet drei Franken. Weitere Informationen bietet die Website www.clubandinoboliviano.com.