Das Ende der Gewalt: Hört auf, zurückzuschlagen

Nr. 12 –

Jugendliche Schläger und immer mehr Opfer pädophiler Übergriffe besetzen das Medieninteresse. «Gerechtigkeit» kann es weder für die einen noch für die andern geben. TäterInnen sind immer auch Opfer. Der Schriftsteller Jürgmeier denkt über die Asymmetrie des Leidens nach.


Ich sehe die Kinderzeichnung noch verschwommen vor mir und weiss, was mir damals, vor bald vierzig Jahren, als Erstes in die Augen stach: eine Figur, die mit einer Pistole auf eine andere zielte. Ich war jung und zum ersten Mal verliebt. Der Vater meiner ersten Freundin war ein schwerer Alkoholiker, der mehr als einmal zuschlug, auch schon mal eine Holztüre eintrat, hinter der sich Frau und Kinder versteckten, oder mit Benzinkanister und Gewehr in der Hand Schlimmeres androhte.

Jeden Morgen wartete ich vor der Schule auf meine Freundin, um mich zu vergewissern, dass sie noch lebte. Die Zeichnung übrigens schenkte ihr kleiner Bruder dem Vater zum Geburtstag. Die Polizei, von der Mutter mehr als einmal gerufen, begnügte sich in jenen Jahren damit, die Frau zu ermahnen, sie dürfe halt so einen starken Mann nicht reizen. Die Zeiten haben sich, in diesem Punkt zumindest, geändert.

Gewalt gegen andere, aber auch gegen sich selbst, ist der Versuch, Unsicherheit, Angst, Ohnmacht zu überwinden, um Kontrolle oder wenigstens Ruhe herzustellen. Das gilt für die Mutter und den Vater, welche die Begrenztheit ihres Einflusses auf das Kind, selbst das einjährige, nicht ertragen und zuschlagen. Das gilt auch für den Mann, der sich, aus Angst vor der Launenhaftigkeit der Liebe, mit Gewalt holt oder zerstört, was ihm nicht zufällt.

Die subjektiv als Hilflosigkeit empfundene Begrenztheit menschlichen Einflusses bewirkt bei den Gewalt Ausübenden das Gefühl, sie würden zurückschlagen. Wir alle neigen dazu, eigenes Verhalten wie lautes Schreien, verletzende Gebärden oder eben Gewalt als blosse Reaktion auf andere zu sehen und so zu legitimieren, gerade weil wir solche Verhaltensweisen als verwerflich empfinden. In der subjektiven Perspektive schlagen wir alle immer nur zurück. Allerdings bringen wir dabei nicht selten Kontext und Zeit durcheinander – das heisst, die Person, die unsere Schläge abbekommt, ist nicht die Person, auf die wir reagieren.


TäterInnen sind zwar immer auch Opfer, allerdings selten – im Sinne einer quasigerechten Symmetrie – die Opfer der Opfer. Die meisten Vergewaltiger seien irgendwann selbst Opfer von Gewalt oder sexuellem Missbrauch gewesen, sagt der US-amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg. «In ihnen geht so etwas vor wie: Ich werde jemanden anderen dazu bringen, sich so zu fühlen, wie ich mich damals gefühlt habe.» Das heisst, die ehemaligen Opfer versuchen als Täter Gerechtigkeit herzustellen oder, wie Rosenberg es formuliert, «sie suchen Empathie für das Drama ihres Lebens, für ihre Wut und für das, was hinter der Wut liegt, nämlich meistens: Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht».

Aber es gibt keine Gerechtigkeit, wenn Gerechtigkeit bedeutet, TäterInnen sollten am eigenen Leib und eigener Seele spüren, was das Opfer beziehungsweise seine Angehörigen erlitten. So unerträglich die Vorstellung für die Opfer beziehungsweise ihre Angehörigen ist, dass der Täter oder die Täterin eines Tages wieder ein gemütliches Leben führt, sich verliebt und gestreichelt wird, während das erschlagene Kind für alle Zeiten schweigt – es gibt keine Symmetrie des Leidens. «Mein Leben ist gezeichnet», sagt die Mutter eines getöteten männlichen Jugendlichen, «unwiderruflich, unbedingt, lebenslang». Und verwendet, wahrscheinlich nicht zufällig, das juristische Vokabular. Wir können es ihr nicht ersparen, dass die Täter nicht denselben Preis bezahlen: Die Überwindung des «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ist eine der grossen zivilisatorischen Leistungen unserer Kultur, der Rechtsstaat eine soziale Errungenschaft, hinter die wir nicht zurückgehen dürfen.

«Die höchste Gerechtigkeit», schreibt der französische Schriftsteller Roger Ikor, «ist, wie ich sehr wohl weiss, diejenige, die den Schuldigen wieder aufrichtet, anstatt ihn zu strafen», um anschliessend zu fragen: «Muss man jedoch nicht auch an das Opfer denken? Selbst wenn es durch die Rache nicht wieder zum Leben erweckt wird und die Rache nur den anderen Verbrechen ein weiteres hinzufügt?» Das ist die Ambivalenz, in der wir uns befinden, und aus der es kein wirkliches Entkommen gibt. Wer die Gewalt ohne Ende nicht fortsetzen will, muss dem Opfer zumuten, dass es keine «Gerechtigkeit» bekommt. Die Sehnsucht nach dem Ende aller Gewalt bringt nicht selten selbst Gewalt hervor. Die milliardenfach heruntergebetete Kernbotschaft christlicher Kulturen – «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern» – ist nicht nur für die meisten Opfer, sondern ganz offensichtlich auch für das gesellschaftliche Kollektiv eine Überforderung.

So werden Rückfälle entlassener beziehungsweise beurlaubter Straftäter geradezu gierig aufgegriffen, um sie durch mediale Skandalisierungen beziehungsweise politische Rückgriffe dazu zu benutzen, dem ungeliebten Resozialisierungsparadigma den finalen Rückschlag zu verpassen und härtere Strafen als Schutz potenzieller Opfer zu propagieren.

Auf den ersten Blick leuchtet zwar ein, was Jan Philipp Reemtsma, selbst Opfer einer Entführung, in seinem Buch «Im Keller» schreibt: «Die Strafe demonstriert die Solidarität des Sozialverbandes mit dem Opfer. Sie grenzt den Täter aus und nimmt das Opfer hinein.» Aber hinter der mit der Formel «Opferzentrierung statt Täterzentrierung» propagierten und teilweise bereits durchgesetzten Strafverschärfung – siehe Verwahrungsinitiative, Verjährungsinitiative, Forderung nach Herabsetzung des Strafrechtsalters für Jugendliche – steckt fatalerweise eine neue Täterfixierung, und die lenkt von der Not des Opfers ab. Wenn Opferinteressen vom gesellschaftlichen Kollektiv mit Strafinteressen gleichgesetzt werden, wird den Betroffenen nicht wirklich geholfen. Wer mit der oft zitierten «Opferperspektive» Politik macht, instrumentalisiert das unverwechselbare, letztlich nicht nachempfindbare und unabgegoltene Leid einzelner Menschen für die Durchsetzung eigener Vorstellungen und Interessen.


Im SF-DRS-«Club» vom 14. Juli 2009 zum Thema «Jetzt reden die Opfer» beklagt sich die Mutter eines von Jugendlichen schwer verletzten jungen Mannes, die Täter hätten diesen bei Gericht nicht einmal angeschaut. Und sagt dann den Satz, der einer Betroffenen verziehen sei: «Ich habe mir gedacht, vielleicht sind das Menschen, aber es sind keine Menschen.» Das dürfte in einer öffentlichen Fernsehsendung nicht unwidersprochen bleiben, die verständliche Wut der Opfer darf nicht zur öffentlichen Meinung werden. Denn die Entmenschlichung von TäterInnen ist zum einen Verharmlosung des Menschenmöglichen, zum anderen Vorbereitung neuer Gewalt. Der des Menschlichen beraubte Täter wird, zumindest symbolisch, zum Abschuss freigegeben.

Die Stilisierung der Täterfigur zum Unmenschen, zum ganz anderen, ist auch gefährlich – sie lässt potenzielle Opfer die Gefahr im «sozialen Nahraum» und im gesamtgesellschaftlichen Kontext übersehen. Die Statistik gewordene Erfahrung zeigt, dass in Friedenszeiten die Familie ein Ort grösster Bedrohung ist, dass Menschen nirgendwo so gefährdet sind, Opfer von Gewalt zu werden wie unter ihren Liebsten, Vertrauten und Bekannten. Das heisst, nicht selten gilt der beklemmende Satz: Wir sind die, vor denen wir euch immer gewarnt haben.

TäterInnen sind das letzte Glied einer sozialpsychologischen Kette; sie führen den Schlag aus, den andere vorbereitet haben. Auch für sie gibt es – wenn auch anders als für das Opfer – keine Gerechtigkeit. Sie werden als Einzige vor Gericht gezerrt und weggesperrt, was in einzelnen Fällen zum Schutz potenzieller Opfer notwendig ist. Da, wo Menschen für eine Tat zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden, kommen alle anderen MittäterInnen ungeschoren davon – die Eltern, die Nachbarn, die Lehrerinnen, der Pfarrer, die Leiter von Turnverein und Lehrbetrieb. Niemand zerrt die für die psychosozialen Lebensverhältnisse von Vergewaltigern und Mörderinnen Verantwortlichen vor Gericht.

Wer traut sich heute noch, in einer öffentlichen Debatte zu verlangen – wie es der bekannte Vertreter der Schweizer Strafreformbewegung Eduard Nägeli in den siebziger Jahren tat –, «dass nicht nur die Verantwortung des Täters für die Gemeinschaftsordnung, an der er teilhat, sondern auch die Mitschuld der Gesellschaft am deliktischen Geschehen mit berücksichtigt werden muss»? Solche zwischenzeitlich fast selbstverständlich gewordenen Erkenntnisse sind erst mit der Totschlagformel von den «Linken und Netten» und dann durch einen beinahe kollektiven Null-Toleranz-Konsens wieder in die Defensive gedrängt worden.

Die Rückkehr beziehungsweise Absolutsetzung der individual-strafrechtlichen Härte als prioritäre Antwort auf das Phänomen Verbrechen ist zum einen Ausdruck der Enttäuschung darüber, dass Strafreform- und Resozialisierungskonzepte nicht zum schnellen Ende aller Gewalt und Kriminalität geführt haben, zum anderen Teil der neoliberalen Entsolidarisierung, der Individualisierung von allem. Armut und Kriminalität erscheinen in dieser Optik ausschliesslich als Versagen beziehungsweise Schuld des oder der Einzelnen.

In diesem Kontext droht eine unheilige Allianz zwischen der zu Recht vorangetriebenen Anerkennung häuslicher Gewalt als Offizialdelikt und der Sehnsucht nach einfachen Lösungen, die in unsicheren Zeiten immer Hochkonjunktur hat. Die Anerkennung häuslicher Gewalt als ernstzunehmendes Problem – ein wichtiger Fortschritt gegenüber der eingangs beschriebenen Situation in der Familie meiner ersten Freundin – ist als offizielle kollektive Reaktion faktisch in strafrechtlichen und polizeilichen Massnahmen steckengeblieben. In der öffentlichen Debatte werden therapeutische und sozialarbeiterische Ansätze tendenziell als sozialromantisches Gerede diffamiert, während das harte Durchgreifen gegenüber TäterInnen als reales Handeln stilisiert wird.


Patriarchats-, familien- und machtkritische Ansätze sind aus dem öffentlichen Diskurs über häusliche Gewalt fast gänzlich verschwunden. Aber sexuelle und andere Gewalt im sozialen Nahraum ist nicht in erster Linie eine polizeiliche, sondern vor allem auch eine Frage des Familien- und Geschlechterkonzepts. Ohne Öffnung beziehungsweise grössere Durchlässigkeit des immer wieder ins Sadomasochistische kippenden Systems Familie und ohne Dekonstruktion traditioneller Geschlechterkonzepte – die Männlichkeit massgeblich über die Tat und das heisst auch über Gewalt, Weiblichkeit zentral über Passivität und Ohnmacht konstituieren, Männer als Opfer und Frauen als Täterinnen unsichtbar machen –, ohne Überwindung dieser Geschlechter- und Familienverhältnisse wird das Schlagen und Zurückschlagen anhalten, bis es niemanden mehr gibt, der oder die zurückschlagen kann.

Anteilnahme gegenüber Opfern zu zeigen, ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe. Aber wir, als gesellschaftliches Kollektiv, müssen uns zusätzlich das weit Schwierigere abverlangen: Die Solidarität mit dem Täter – und das ist weder Einverständnis noch Vergebung. Wir müssen ihm oder auch ihr zu verstehen geben: Wir lassen dich nicht allein, auch nicht mit deiner Tat.

Die ungeschönte Benennung der eigenen Tat sowie die direkte Konfrontation mit dem Opfer fallen vielen TäterInnen schwer. Opfer beziehungsweise Angehörige von Getöteten beklagen sich immer wieder, die TäterInnen würden sich nicht bei ihnen melden, sich nicht entschuldigen und, beispielsweise vor Gericht, ihrem Blick ausweichen. Das erscheint ihnen als besondere Gefühlskälte und fehlendes Unrechtsbewusstsein, aber es ist zu vermuten, dass die für Tod beziehungsweise Verletzung Verantwortlichen die eigene Tat und deren Folgen nicht ertragen, deshalb dem Schmerz der Opfer und ihrer Angehörigen auszuweichen versuchen. Gerade weil TäterInnen das selbst Verursachte als unerträglich empfinden, suchen sie nach Rechtfertigungen und Ausflüchten, empfinden sie sich ihrerseits als Opfer der grässlichen Tat, den Täter beziehungsweise die Täterin als eine ihnen fremde Person. «Ich war nicht ich selbst.» «Es hat mich überkommen.» «Die Hand ist mir ausgerutscht.» Man muss sich diese Sprachbilder einmal plastisch vorstellen – die Hand ist mir ausgerutscht, also selbstständig geworden, ein geradezu organisches Wunder.

Grundsätzlich ist es nicht Sache der Opfer, TäterInnen in den Arm zu nehmen, sondern Aufgabe einer Gesellschaft, die verhindern will und muss, dass TäterInnen TäterInnen bleiben und ganz gewöhnliche Kinder und Erwachsene irgendwann ihrerseits TäterInnen werden. Aber gerade bei häuslicher Gewalt treffen sich Opfer und TäterIn in vielen Fällen wieder. Kinder, die von ihren Eltern verprügelt wurden und werden, sitzen wieder einträchtig mit ihnen vor dem Fernseher. Erwachsene, die vom Onkel in jungen Jahren sexuell ausgebeutet wurden, feiern mit ihm Weihnachten. Frauen, die von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt, Männer, die von ihren Frauen getreten wurden, teilen weiterhin Bett und Tisch oder kehren nach Gewaltschutzmassnahmen in die gemeinsame Wohnung zurück.

Ob direkt Betroffene diesen Schritt gehen wollen, ist ausschliesslich ihr individueller Entscheid; Opfer haben alles Recht der Welt, das gemeinsame Haus definitiv für sich allein zu beanspruchen oder ihrerseits für immer zu verlassen. Aber wir als Aussenstehende, als soziales Kollektiv, dienen weder dem konkreten Opfer – auch wenn es entsprechende Forderungen an uns stellen mag – noch potenziell Gefährdeten, wenn wir uns, in einer Art Rückgriff auf alte Rachegesetze, mit den Vergeltungsfantasien der Opfer identifizieren, um sie stellvertretend und staatlich legitimiert auszuleben. Der einzig legitime Grund für das Wegsperren von Menschen ist die reale Gefährdung anderer. In den meisten Fällen aber ist eine solche Massnahme nicht Prävention, sondern Vergeltung, das heisst, im subjektiven Erleben des Täters, Gewalt und damit Grundlage für den nächsten Zurückschlag.

Stellen Sie sich deshalb für einen Moment vor, das utopische und womöglich naive Experiment erhielte eine reale Chance – das Experiment einer Gesellschaft, die nicht zurückschlägt, straft und ausgrenzt, sondern TäterInnen in kritischer Solidarität integriert, ihnen in den Arm fällt und sie in den Arm nimmt. Stellen Sie sich vor, diese Vision bekäme, trotz Zurückschlägen, mindestens halb so lange Zeit wie jener andere Versuch, der schon seit Jahrtausenden andauert – sind Sie sicher, dass es dann mehr Tote, Verletzte und Gekränkte gäbe?


Der Schriftsteller, Berufsschullehrer und Erwachsenenbildner Jürgmeier (58) ist bekannt geworden mit politischen Interventionen – etwa einem Band zu den Zürcher Jugendunruhen. Sie setzen sich in seinem literarischen Werk ebenso fort wie in seinem Engagement im Bildungsbereich. In seinem jüngsten Buch «‹Tatort›, Fussball und andere Gendereien» ist auch Gewalt ein grosses Thema. Der hier abgedruckte Text ist die gekürzte Fassung eines Referats.