Nach dem Tod von Gaddafi: Ein islamischer Staat Libyen

Nr. 43 –

Nur wenige Tage nach Kriegsende organisieren sich die ersten Parteien, um sich auf die Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung vorzubereiten. Sicher ist nur: Das politische System Libyens wird sich wieder stärker am Islam orientieren.

Das Treffen findet im «al-Andalus» statt, einem für arabische Länder so typischen riesigen Hochzeitssaal mit Kristallleuchtern und reichlich Plüsch in Weiss. «Heute wird aber nicht gefeiert», sagt Abdullah Banun entschieden, bevor er auf dem Podium Platz nimmt. Der 72-jährige Anwalt ist der Hauptorganisator der neu gegründeten Partei Libya al-Watan (Heimat Libyen), deren Mitglieder sich hier einmal die Woche treffen.

«Die Partei existiert offiziell nicht, da wir sie nicht anmelden können», sagt Yussif Mrayed, Bauingenieur und Mitinitiator von Libya al-Watan, und fügt verschmitzt hinzu: «Es gibt kein Gesetz zur Gründung von Parteien – dank unseres grossen Führers.» Zehn weitere ähnliche Parteineugründungen soll es in Tripolis geben. «Und in Benghasi sind es drei», sagt der 65-jährige Mrayed. Kaum eine Woche nach Kriegsende beginnen die Menschen, sich zu organisieren, um endlich nach 42 Jahren Diktatur politisch mitbestimmen zu können.

Unter Muammar al-Gaddafi waren Parteien verboten, da sie das Volk, die Nation angeblich spalten würden. Ebenso erging es sämtlichen nichtstaatlichen Organisationen und Vereinen, ohne die es keine funktionierende Zivilgesellschaft geben kann. «Gaddafi hatte Angst, er könnte die Kontrolle verlieren», sagt Mrayed. Eine Paranoia, die sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche erstreckte. So durfte an den Universitäten Soziologie oder Politik nur mit Bezug auf das von Gaddafi verfasste Grüne Buch gelehrt werden – dem «von Gott inspirierten Werk», das den Diktator «zum Propheten» erklärte. «Alle sollten nur an ihn und an sein Buch denken», sagt Mrayed.

«Im Namen Gottes»

Im Ballsaal al-Andalus trudeln nun langsam die letzten Mitglieder der Partei Libya al-Watan ein, die sich für Demokratie und Gerechtigkeit im Land einsetzen will. Es sind 32 Männer, die auf einer Seite des Saals sitzen, sittsam getrennt von den fünf Frauen. Bevor es mit dem Segensspruch «Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes» losgeht, rezitiert ein Mann mit geschlossenen Augen eine Koransure. Es folgt ein gemeinsames Gebet für die Märtyrer des Kriegs.

«Wir sind eine Partei, weder links noch rechts, liberal und genau in der Mitte», sagt Wanis al-Ruemi, der gleich neben dem Podium an einem der grossen runden Festtische Platz genommen hat. «Unser Parteiprogramm ist fast fertig, nur einige wenige Punkte müssen noch diskutiert werden», sagt der Geologe. Er hat fast fünfzehn Jahre im Ausland gelebt – die meisten davon in Britannien und Italien. Al-Ruemi möchte seine Erfahrungen von seiner Tätigkeit bei verschiedenen Ölfirmen und vom Leben im Westen in die Partei miteinbringen. «Helfen», wie er sagt.

Dazu bekommt er sofort Gelegenheit, als die Sprache auf Libyens Erdöl kommt. «Die Fördermenge ist viel zu hoch», sagt ein älterer Herr mit Anzug und Krawatte ins Mikrofon. «Man muss sie reduzieren und nicht auf 1,6 Millionen Barrel pro Tag hochtreiben wie unter Gaddafi. Sonst werden unsere Reserven zu schnell aufgebraucht.» Al-Ruemi ist anderer Ansicht. Man müsse einfach nur die Erdölexploration verlangsamen. Das habe den gleichen Effekt und sei auf Dauer gesehen sinnvoller.

Nach kaum einer Stunde geht die Veranstaltung schon wieder zu Ende. Von den fünf Frauen hat keine etwas gesagt. «Natürlich wollen wir uns auch für die Zukunft Libyens einsetzen», sagt Swelna Trabelsi, eine Anwältin. «Für das Wohlergehen unserer Nation.» Nun ist es jedoch Zeit fürs Gebet. Auf dem Boden werden dafür Tücher ausgebreitet.

«Der Islam ist aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken», erklärt der Geologe al-Ruemi danach draussen auf der Strasse. Er könne sehr gut verstehen, dass Mustafa Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats NTC, einen islamischen Staat Libyen ausgerufen hat. «Die Leute wollen nichts anderes.»

Bei den Feierlichkeiten zum «Tag der Befreiung» am 20. Oktober versprach Dschalil auf dem Märtyrerplatz in Benghasi eine neue rechtliche Ordnung, die sich auf die Scharia als Hauptquelle stützen werde. Das kann vieles bedeuten, so stützt sich etwa auch die ägyptische Verfassung seit Jahrzehnten auf die Scharia. Entscheidend ist die Auslegung. Dschalil erntete für seine Ankündigung Jubelstürme von Tausenden von Menschen. Gewehrsalven wurden aus Freude abgegeben und Feuerwerk gezündet.

Alles hinter verschlossenen Türen

Die Gesetze aus der Ära Gaddafi sollen gemäss den Richtlinien des islamischen Rechts abgeändert werden. Darunter das Scheidungsrecht und auch der Polygamieparagraf. Zwar konnte unter Gaddafi ein Mann eine zweite Frau heiraten, aber nur, wenn die erste schriftlich ihre Erlaubnis dazu gab. Damit es nun vorbei: Nun soll jeder Mann vier Frauen heiraten dürfen, vorausgesetzt, er schafft es, sie der Scharia gemäss gleich zu behandeln.

Gegen eine islamische Rechtsordnung in Libyen hat sich bisher niemand öffentlich ausgesprochen. Von den NTC-Mitgliedern mit säkularer Vergangenheit wie Ali Tarhuni, der seit mehr als dreissig Jahren im Exil in den USA lebte und 1980 zu den Gründern der oppositionellen, marxistisch ausgerichteten Nationalen Demokratischen Front gehörte, ist kein kritisches Wort zu hören. Nun macht sich Tarhuni, der in der Revolutionszeit auf verschiedenen Ministerposten diente, angeblich Hoffnungen, der neue Premierminister zu werden.

Beim NTC wird bisher jedoch alles hinter verschlossenen Türen geregelt. Informationen über Personalentscheidungen dringen nur spärlich nach aussen. Eines dürfte jedoch auf jeden Fall sicher sein: Mahmud Dschibril, der am vergangenen Samstag von seinem Posten als Premier des NTC zurücktrat, musste auf Druck der Islamisten gehen. Als sein Hauptkritiker gilt Ismail Sallabi – ein bekannter islamischer Gelehrter und Fundamentalist der Muslimbruderschaft, der eine eigene Miliz unterhält. Dschibril war Sallabi und den Islamisten zu liberal und mit der neuen religiösen Ordnung wohl nicht einverstanden.

Libyen wird also ein islamischer Staat. Fraglich ist, wie in diesem Rahmen zukünftig mit Demokratie, mit einer pluralistischen Gesellschaft und mit den Menschenrechten umgegangen wird. Denn die Einführung einer auf der Scharia basierenden Rechtsprechung bedeutet besonders für die libyschen Frauen eine Benachteiligung: Nun können sie bis zu drei Nebenfrauen bekommen, sich nur noch aufgrund von Krankheit oder Unfruchtbarkeit des Manns scheiden lassen und brauchen für bestimmte Dinge einen männlichen Vormund – ohne den sie beispielsweise nicht reisen dürfen.

Letztendlich ist es beim Islam wie mit allen geschlossenen, religiösen wie ideologischen Systemen: Sobald es nur einen einzigen bestimmenden Massstab für das Gute und Schlechte gibt, bleibt die Freiheit auf der Strecke.

«Auf die Moral kommts an»

Für Mahmud al-Foghi, der als Staatsanwalt auf islamisches Recht spezialisiert ist, sind das alles aber nur Vorurteile. Er gibt zwar zu, dass die Scharia eher ein spirituelles System und ihre Umsetzung – gerade was das Strafrecht betrifft – eher schwierig ist. «Trotzdem ist die Scharia ein universales Regelwerk, das nur richtig angewendet werden muss», sagt der 59-Jährige aus der Stadt Bani Walid, die bis vor wenigen Wochen noch heftig umkämpft war. Er betont, dass bei der Anwendung der Scharia moralische Integrität der Entscheidungsträger entscheidend ist. «Es kann nicht sein, dass saudi-arabische Scheichs in Europa beim Glücksspiel sitzen, Alkohol trinken, aber zu Hause islamisches Recht einklagen.» Er schüttelt angewidert den Kopf, um dann im nächsten Atemzug begeistert von der Todesstrafe zu sprechen: «Bei Mord entscheidet nicht das Gericht, ob der Mörder sterben soll, sondern die Familie des Opfers. Ist das nicht eine fabelhafte Sache?»

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