Europa in der Krise: Die Schweizer Solidarität

Nr. 21 –

Es ist wieder so weit. Europa steht am Abgrund. Nach den selbstzerstörerischen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hat nun die in den achtziger Jahren von der Finanzwelt eingeleitete Steuer- und Bankenkrise einen guten Teil der europäischen Staaten in Schieflage gebracht.

Jene helvetischen Auguren, die eh nichts von einem vereinigten Europa wissen wollen, freut dies. Sie spekulieren erneut auf Gelder, die unseren Banken Auftrieb geben könnten. Dabei kommt mir ein Zirkular des Politischen Departements aus dem Jahr 1946 in den Sinn, als Europa in Schutt und Asche lag. «Die Schweiz», so heisst es dort, «befindet sich glücklicherweise in einer privilegierten Position: Sie ist von Zerstörungen verschont geblieben, und der Produktionsapparat ist intakt; ihr Bankensystem ist gut entwickelt, und der Kapitalmarkt verfügt über ein beträchtliches Potential; die öffentlichen Finanzen sind intakt, und die Währung hat eine gesunde und solide Basis.»

Warum sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Handvoll Leute für ein vereintes Europa einsetzte, ist heute vergessen. Es ging nicht nur um ein liberales Wirtschaftssystem und politische Macht. Es ging vielmehr darum, den Kriegen, die seit Jahrhunderten den Kontinent heimgesucht hatten, ein Ende zu bereiten. Und da Kriege sich zumeist im Nationalismus betten, galt es, dieses Übel auszurotten.

Zugegeben, das Projekt Europa ist nur teilweise und eher schlecht verwirklicht. Doch wenn nach dem Untergang des Sowjetimperiums kein solches Projekt bestanden hätte, wären in einem zersplitterten Europa einige Staatsführer wohl der Versuchung erlegen, sich durch kleine Kriege Luft zu verschaffen. Denn der nach wie vor schwelende Nationalismus, aggressiv nach aussen gesteuert, ist ein probates Mittel, um das Volk zu mobilisieren und die Macht im Innern zu sichern.

Der Zerfall Jugoslawiens sollte zu denken geben. Man stelle sich vor, der damalige Brandherd hätte sich über Rumänien und Ungarn nach Zentraleuropa ausgebreitet. Die alten «Grossen» – Frankreich, England, Deutschland, Russland – hätten sich kaum mit der Rolle des Zaungasts zufriedengegeben. Für mich besteht kein Zweifel: Ohne das europäische Projekt wären die kriegerischen Konflikte am Ende des 20. Jahrhunderts auf ganz Europa übergeschwappt.

Einige hängen heute der Illusion nach, mit einem Ausschluss Griechenlands und einer Verkleinerung der Eurozone die Krise zu überwinden. Mit einem solchen Szenario nimmt man jedoch eine Verarmung der Menschen und soziale Unruhen in Kauf. Jeder Staat, der über finanzielle Reserven verfügt, würde dann versuchen, zu einem Spottpreis ein Stück der griechischen Konkursmasse zu ergattern. Ansätze einer solchen Plünderung sind schon sichtbar.

Und was macht die Schweiz? Sie sitzt wie bereits 1946 auf dem hohen Ross und freut sich klammheimlich über Europas Sorgen. Griechenland soll ruhig vor die Hunde gehen, ohne Euro hätten wir den Franken besser im Griff – und was die zu erwartenden Flüchtlinge betrifft, so könnten wir zur Not auf die im letzten Weltkrieg erprobten Mittel zurückgreifen.

Doch eigentlich geht es nicht um Griechenland, den Euro und die EU. Es geht um die supranationale Macht einer Finanzwelt, die Staaten in Geiselhaft nimmt und die Bevölkerung mit dem Argument ausplündert, die nationalen Haushalte müssten mit Sparen und Einschränkungen saniert werden, während Milliarden zur «Rettung» der Banken verschleudert werden. Um diese Macht zu brechen, müssen die Grossbanken zerschlagen und die immens gewachsenen hohen Einkommen umverteilt werden. Längerfristig kann dies nur eine Staatengemeinschaft wie die EU leisten.

Die Schweiz könnte schon heute einen kleinen Schritt in diese Richtung tun. Es würde vorerst genügen, das auf den Banken versteckte Geld griechischer SteuerhinterzieherInnen einzusammeln und nach Griechenland zu überweisen. Bundesrat Max Petitpierre hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einst von «Neutralität und Solidarität» gesprochen. Heute wäre die Gelegenheit, dem zweiten Teil dieser Parole nachzuleben.

Hans Ulrich Jost ist emeritierter Professor für Geschichte der Universität Lausanne.