Schweizerische Nationalbank: «Ich plädiere für eine Tobin-Steuer»

Nr. 28 –

Heftig wird über die Politik der Nationalbank debattiert. Fast alle unterstützen den Frankenmindestkurs. Aber was eigentlich ist Geld? Wirtschaftsprofessor Sergio Rossi zeigt, wie Geld entsteht, er kritisiert den Kurs der Nationalbank und skizziert einen dritten Weg für die Schweiz.

Sergio Rossi: «Wird nichts produziert, kann man so viele Franken haben, wie man will. Die Franken haben keine Kaufkraft, wenn es nichts zu kaufen gibt.»

WOZ: Herr Rossi, Sie kritisieren die Politik der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die den Franken an den Euro gebunden hat. Wollen Sie, dass die hiesige Exportwirtschaft vor die Hunde geht?
Sergio Rossi: Nein. Derzeit profitieren aber vor allem die Banken. Die SNB gibt Franken heraus, um den Geschäftsbanken Euros abzukaufen. Dadurch steigt in der Schweiz die Geldmenge, die die Banken nutzen, um neue Kredite zu vergeben. Damit wird der überhitzte Immobiliensektor weiter angeheizt. Ich plädiere für eine sogenannte Tobin-Steuer auf dem Kauf von Schweizer Franken.

Dazu kommen wir gleich. Verraten Sie uns zuerst, was Geld überhaupt ist?
Den Salat, den Sie gerade essen, werden Sie mit einer Zehnfrankennote bezahlen, die die SNB in Umlauf gebracht hat. Deshalb glauben wir, dass das Geld einen Wert an sich hat. Auch weil wir die Idee haben, dass hinter dem Geld Gold liegt: Früher waren die Münzen aus wertvollem Metall; später wurden Münzen aus billigem Metall fabriziert, das lediglich einige Rappen wert war, das entsprechende Gold wurde jedoch als Garantie bei der Nationalbank hinterlegt. Schliesslich wurde diese Bindung aufgelöst: Die Noten können heute nicht mehr in Gold umgetauscht werden. Dennoch herrscht weiterhin die Idee vor, dass der Goldwert irgendwie die Kaufkraft des Geldes bestimmt.

Das ist die übliche Idee von Geld …
Ja. Dass Geld keinen Wert an sich hat, zeigt sich jedoch bereits daran, dass kein Staat bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts das Geld, das im Umlauf ist, miteinbezieht. Der Punkt ist: Geld hat lediglich eine Kaufkraft, weil es an die Produktion von Gütern und Dienstleistungen gebunden ist. Wird nichts produziert, kann man so viele Franken haben, wie man will: Die Franken haben keine Kaufkraft, wenn es nichts zu kaufen gibt. Der Augenblick, in dem das Geld an die Produktion gekoppelt wird, ist die Auszahlung des Lohns. Wenn Sie für die WOZ einen Monat lang Artikel geschrieben haben, werden Sie am Ende mit X Franken bezahlt. Diese X Franken messen das Produkt, das Sie fabriziert haben. Wird der Franken zur Bezahlung von Löhnen herausgegeben, hat er eine Kaufkraft, weil ihm ein Produkt gegenübersteht.

Wer schafft das Geld?
Die gängige Annahme ist, die SNB sei die Einzige, die Geld herausgibt. Das ist falsch. Das meiste Geld wird von den Geschäftsbanken herausgegeben, indem sie Kredite vergeben. Nehmen Sie das Beispiel einer Bank, die mir einen Kredit von 500 000  Franken gibt, damit ich ein Haus bauen kann. Wenn ich der Bank sage, sie solle die Rechnung des Architekten begleichen, nutzt die Bank die Kreditlinie, die ich besitze, um Geld herauszugeben, damit der Architekt ein Depot auf der Bank erhält. Anschliessend muss ich den Kredit jedoch finanzieren. Ein Kredit und Geld sind also zwei verschiedene Dinge.

Die Bank schöpft also Geld, indem sie den Architekten bezahlt, der das Geld wiederum bei der Bank deponiert.
Ja, die Banken schöpfen Geld durch den Kredit, den sie einer anderen Bank, dem Staat, Firmen oder natürlichen Personen vergeben. Jede Bankeinlage erscheint also erstmals als Folge einer Kreditvergabe.

Und in dem Moment, in dem ich den Kredit verwende, um etwas zu produzieren, mit dessen Verkauf ich den Kredit zurückzahle, schaffe ich die Kaufkraft des Geldes, das die Bank schöpft.
Ja. Allerdings: Die UBS kann einer Firma einen Kredit geben, damit diese produzieren kann. Sie kann aber auch einer anderen Bank einen Kredit vergeben, die weniger Liquidität besitzt, damit diese Finanzprodukte kaufen kann. Damit wird ebenfalls die Geldmenge erhöht, jedoch nicht das Sozialprodukt. In diesem Fall kommt es zu Inflation – aber nicht zu einem Anstieg der Konsumentenpreise. Doch es kommt zu einer Inflation auf dem Finanzmarkt und am Ende möglicherweise zu einer Finanzblase. Genau das ist in den Jahren vor der Finanzkrise 2008 geschehen – vor allem in den USA.

Und wie schöpft unsere Nationalbank Geld?
Sie gibt über zwei Kanäle Geld heraus. Zum einen, indem sie über die Geschäftsbanken Geldnoten in Umlauf bringt. Die SNB liefert zum Beispiel der Zürcher Kantonalbank eine Kiste mit Noten, die die Bank in ihre Bankomaten legt. Wenn die Kunden das Geld abheben, beginnt es zu zirkulieren. Das meiste Geld, das die Nationalbank herausgibt, geht jedoch direkt auf die Girokonten, die die Geschäftsbanken bei der Nationalbank haben. Die Banken können bei der SNB liquide Mittel ausleihen. Dafür zahlen sie einen Zins und geben der SNB Wertpapiere, wie Bundesobligationen, als Garantie ab. Dieses Geld ist eine rein elektronische Buchhaltung.

Warum brauchen die Geschäftsbanken dieses Nationalbankgeld, wenn sie doch eigenes Geld schöpfen können?
Weil die Geschäftsbanken ihre Schulden, die sie untereinander haben, nicht mit dem von ihnen geschöpften Geld bezahlen können. Niemand kann eigenes Geld schöpfen, um seine Schulden endgültig zu bezahlen. Individuen und Firmen regeln ihre Schulden mit dem Geld der Geschäftsbanken. Aber die Geschäftsbanken begleichen ihre Schulden unter sich auf dem Interbankenmarkt mit dem Geld der Nationalbank. Das geschieht je nach Zahlungssystem entweder laufend oder jeweils spätestens am Ende des Tages. Die Zentralbank ist die Bank der Geschäftsbanken.

Nun ist täglich zu hören, die SNB «drucke» Franken und kaufe damit Euros, um den Franken gegenüber dem Euro beim Kurs von 1.20 zu halten – um damit die Exporte zu stützen. Was geschieht da konkret?
Die SNB kauft den hiesigen Banken mit Franken Euros ab, die die Banken loshaben wollen. Die Franken schafft sie, indem sie sie auf den Girokonten dieser Banken einfach gutschreibt. Wenn etwa die Credit Suisse zehn Milliarden Euros der SNB verkauft, erhält sie zwölf Milliarden Franken auf ihr Girokonto bei der Nationalbank. Die SNB schöpft diese zwölf Milliarden Franken, indem sie den Betrag auf dem Girokonto der Credit Suisse gutschreibt.

Sie sagt: Zum Kurs von 1.20 Franken kaufe ich euch so viel Euros ab, wie ihr wollt …
Ja.

Einige Experten behaupten, die SNB könne unlimitiert Geld schöpfen, andere sagen, es existiere eine Grenze. Wer hat recht?
Beide. In der Theorie gibt es keine Grenze. Das gilt auch für die Geschäftsbanken. Keine Bank hat eine mechanische Grenze beim Geldschöpfen.

Die Geschäftsbanken haben doch Eigenkapitalquoten einzuhalten und brauchen am Ende des Tages genügend Zentralbankgeld, um ihre eigenen Schulden zu bezahlen?
Ja, das sind die Begrenzungen, die sich aus dem konkreten Zahlungsverkehr innerhalb des Bankensystems ergeben. Die SNB kann auch die Zinsen erhöhen, die sie für die Vergabe von Zentralbankengeld fordert, um den Geschäftsbanken Anreize zu geben, ihre eigene Geldschöpfung zu reduzieren, da diese damit teurer wird.

Und in der Praxis? Gibt es für die SNB eine Grenze?
Sie könnte plötzlich merken, dass sie aus praktischen Gründen nicht unendlich viele Euros kaufen kann und sie ihr Programm einstellen muss. Dann wäre die Glaubwürdigkeit der SNB sofort verloren.

Was verstehen Sie genau unter praktischen Gründen?
Kauft die SNB bei den Schweizer Geschäftsbanken mit Franken Euros, steigen deren Girokonten bei der SNB – auf die es keine Zinsen gibt. Irgendwann fragen sich die Manager dieser Banken, was sie mit dieser Reserve an Liquidität tun sollen. Sie werden die Vergabe von Hypothekarkrediten erhöhen oder Wertpapiere kaufen, um einen höheren Gewinn zu erzielen.

Damit fördert die SNB die Inflation, vor der so viele warnen …
Ja, aber eben nicht eine Inflation im Sinne eines Anstiegs der Konsumentenpreise, so wie alle befürchten. Es sind die Preise der Immobilien und der Wertpapiere an den Börsen, die steigen. Denn das übermässige Geld fliesst nicht in produktive Unternehmen. Die Banken schöpfen Geld, indem sie Immobilienkredite vergeben oder Wertpapiere kaufen. Was sich derzeit auf dem Schweizer Immobilienmarkt abspielt, ist verrückt. Auch wenn die Banker sagen, sie seien zurückhaltend mit der Vergabe von Hypotheken – das stimmt nicht. Es wird viel vergeben: Die Preise der Häuser, Wohnungen und Grundstücke steigen immer weiter an. Deshalb bin ich gegen die Politik der SNB, die am 6. September 2011 den Franken an den Euro gebunden hat.

Warum fliesst das Geld in die Spekulation statt in die Produktion?
Die orthodoxen Ökonomen, also die Neoliberalen, glauben, dass das Zinsniveau für Bankkredite die Investitionen der Firmen bestimmt: Fallen die Zinssätze, steigen die Investitionen automatisch. Doch das ist falsch. Die Unternehmen sagen sich: Gut, die Zinssätze der Bankkredite, mit denen wir unsere Investitionen finanzieren könnten, sind zwar tief. Doch die Produkte, die sich aus diesen Investitionen ergeben, müssen wir wiederum verkaufen, um die entsprechenden Kredite zurückzubezahlen. Aber derzeit ist die wirtschaftliche Nachfrage viel zu schwach. Es wird zu wenig gekauft, also wird nicht investiert. Das gilt für ganz Europa.

Das ist das Argument des Ökonomen John Maynard Keynes: In der Krise ist die Unsicherheit über künftige Renditen von Investitionen zu hoch …
Ja, doch das ist nicht alles. Das eigentliche Problem liegt viel tiefer: Die Kaufkraft ist heute zunehmend ungleich verteilt. Die Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen, und auch der Vermögen, hat zugenommen. Es gibt die ganz Reichen, die immer mehr verdienen, und die Armen, die arm bleiben. Das belegen zahlreiche Studien internationaler Organisationen wie etwa der OECD. Das führt zu einer mangelnden wirtschaftlichen Nachfrage. Die unteren Einkommen können zu wenig konsumieren; und je mehr die Reichen haben, desto kleiner ist der Anteil, den sie davon für Konsum ausgeben, und desto grösser jener, den sie sparen.

In den USA und in europäischen Ländern hat man den Konsum der unteren Einkommensklassen durch die Förderung von Konsum- und Hypothekarkrediten angekurbelt. War das die Hauptursache der Finanzkrise 2008?
Das ist eine Ursache. Eine zweite besteht darin, dass man den Banken erlaubte, ihre an arme Haushalte vergebenen Kredite zu bündeln, in Tranchen zu schneiden und auf den Finanzmärkten weiterzuverkaufen, um das Ausfallrisiko weiterzugeben. Das war jedoch für die Käufer der Papiere nur schwer einzuschätzen. – Aber ja, die Verteilung der Einkommen ist ein grosses Problem. Zusammen mit der Deregulierung der Finanzmärkte hat sie die Wirtschaftskrise, in der die USA und die EU derzeit stecken, verursacht.

Man hatte die Illusion, durch Konsumkredite die wegbrechende Nachfrage endlos kompensieren zu können und damit die Wirtschaft am Leben zu halten.
Ja. Schulden sind nicht per se schlecht. Doch sie müssen produktiv sein, damit sie zurückbezahlt werden können. Benutzen Sie einen Kredit, um etwas zu produzieren, können Sie das Produkt anschliessend verkaufen, um den Kredit zurückzuzahlen. Wenn Sie sich das Geld zum Konsumieren jedoch leihen, bleibt am Ende die Schuld. Das gilt für Individuen, für Unternehmen und natürlich auch für die öffentliche Hand.

Welchen Ausweg sehen Sie für Europa, insbesondere für die überschuldeten Staaten?
Zusätzliche Schulden sind für diese Staaten derzeit nicht möglich, weil sie bereits heute zu hohe Zinsen bezahlen müssen. Die Ausgaben können sie nicht weiter senken, weil der Wohlfahrtsstaat in den letzten Jahren durch Sparmassnahmen bereits abgebaut wurde. Deshalb gilt es den dritten Weg einzuschlagen: die Neuverteilung des Reichtums und der Einkommen. Das würde zu einer höheren Nachfrage führen und damit die Wirtschaft stabilisieren. Jene, die ganz oben auf der Leiter stehen, müssen mehr Steuern bezahlen. Es gibt immer mehr Reiche, die mehr Steuern bezahlen wollen; sie begreifen, dass das aktuelle System, von dem sie profitieren, entgleist.

Die Gegner der SNB-Mindestkurspolitik sind vor allem Bankenvertreter, die sich von einer Aufwertung des Frankens noch mehr Gewinne für die Banken versprechen. Sie sind dagegen, weil Sie eine Immobilienblase befürchten. Wie sähe Ihre Tobin-Steuer aus?
Statt den Franken an den Euro zu binden, was zu einer enormen Erhöhung der Geldmenge führt, muss man bei den Spekulanten, Pensionsfonds, Banken und allen anderen, die Franken kaufen, eine Steuer erheben.

Also eine Art Kapitalverkehrskontrolle?
Keine Kontrolle, das Kapital wäre weiterhin frei, hierherzufliessen. Ich habe eine Steuer von 0,01 Prozent vorgeschlagen. Im Jahr 2011 wurden durchschnittlich 72 Milliarden Franken pro Tag gekauft – mit einem vorübergehenden Peak im August von 247 Milliarden. Mit dem vorgeschlagenen Steuersatz hätte der Bund letztes Jahr etwa fünf Milliarden Franken eingenommen. Das Geld würde in einen Fonds fliessen und könnte an Schweizer Unternehmen weitergegeben werden, die in Schwierigkeiten stecken.

Allerdings mit Auflagen: Erstens müssten die Firmen ihre Arbeiter unbefristet anstellen; denn befristete Verträge führen zu tieferem Konsum. Wenn die Leute wissen, dass sie das Unternehmen bald verlassen müssen, werden sie mehr sparen. Zweitens müsste das Geld in Investitionen fliessen, die die Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördern. Und drittens hätte das Geld nur an Firmen zu gehen, die auch wirklich in der Schweiz tätig sind – also nicht an Briefkastenfirmen, die hier lediglich von den tiefen Steuern profitieren. Nur schon die Ankündigung einer solchen Tobin-Steuer würde die Spekulation um den Franken eindämmen.

Kaufen die Leute Franken, um zu spekulieren oder um das Geld in Sicherheit zu bringen?
Erstens sind das reiche Leute, die Angst haben und darum ihr Geld hierherbringen. Zweitens sind es Investoren, die den Franken als sicheren Hafen betrachten. Und drittens gibt es Spekulanten, die Franken kaufen, um zu sehen, wie weit die SNB zu gehen bereit ist. Sie hoffen, dass die SNB ihre Politik aufgibt, womit der Franken an Wert gewinnen würde.

Warum überlässt der Bund das Problem der SNB, statt eine Tobin-Steuer einzuführen?
Weil die Schweiz ein sehr wirtschaftsliberales Land ist und sich die Rechte gegen jede neue Steuer stellt. Eine Tobin-Steuer könnte einige Leute tatsächlich dazu bringen, etwa nach Singapur auszuweichen. Der derzeitige Kapitalzufluss führt zu einem Anstieg der Depots bei den Banken. Dadurch können sie mehr lukrative Kredite vergeben. Und die neuen Kunden belassen ihre Ersparnis nicht auf dem Bankkonto. Ein Teil des Geldes platzieren sie in Finanzprodukte, die die Bank ihnen verkauft. Die Schweizer Banken sind mit dem starken Franken derzeit sehr zufrieden.

Sergio Rossi

Der 44-jährige Tessiner Sergio Rossi ist seit 2008 ordentlicher Professor für Makroökonomie und monetäre Ökonomie an der Universität Freiburg. Seinen Doktortitel erwarb er am University College London. Er hat mehrere Bücher publiziert, darunter «Money and Payments in Theory and Practice», Routledge, 2007.