Deutschlands Arbeitsmarktreformen : Peitschen für den Pöbel

Nr. 34 –

Vor zehn Jahren beschloss die frühere rot-grüne Bundesregierung die Einführung eines Billiglohnsektors. Darunter leiden nicht nur deutsche Lohnabhängige, darunter ächzt auch halb Europa.

An grossen Worten fehlte es nicht. «Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland», sagte der VW-Manager und Kanzlerberater Peter Hartz am 16. August 2002, als er dem damaligen Regierungschef Gerhard Schröder (SPD) die Empfehlungen seiner Kommission zur grössten Sozialreform der deutschen Nachkriegsgeschichte überreichte: Innerhalb von drei Jahren werde sich die Arbeitslosigkeit halbieren. Keine drei Jahre später brüstete sich Schröder dann am Weltwirtschaftsforum 2005 in Davos: «Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, die es in Europa gibt.» Da ahnte er noch nicht, dass seine Partei die Bundestagswahl 2005 verlieren würde. Und dass die SPD noch sieben Jahre später mit dem Erbe kämpfen muss, das er ihr hinterliess.

22 Prozent Niedriglöhner

Denn die nach Peter Hartz benannten vier «Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt» (Hartz I–IV traten von 2003 bis 2005 in Kraft) spalten noch immer die Republik. Während die Unternehmerverbände, die gegenwärtige Regierungskoalition und die alte SPD-Riege das «deutsche Jobwunder» den Arbeitsmarktreformen zuschreiben («ich bin weiterhin stolz darauf», sagte vergangene Woche der frühere SPD-Chef Franz Müntefering; «die Reformen haben sich für unser Land gelohnt», doppelte Schröder in seiner Lieblingszeitung «Bild» nach), hagelt es noch immer Kritik. «Das Hartz-Paket ist gescheitert», kommentierte etwa der Paritätische Gesamtverband, die Dachorganisation der deutschen Wohlfahrtspflege. Zwar sei die Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen Menschen im Frühjahr 2003 auf inzwischen 3,3 Millionen gesunken, aber den Langzeitarbeitslosen habe die Reform wenig geholfen.

«Fordern und fördern» lautete das Motto bei der Verabschiedung der vier Hartz-Gesetze. Damit erhöhten die Regierung und das Parlament den Druck zur Aufnahme jedweder Arbeit, liberalisierten die Leiharbeit, schafften Beschränkungen für befristete Arbeitsverhältnisse weitgehend ab, förderten die Scheinselbstständigkeit und sogenannte Minijobs (bis 400 Euro im Monat), bauten die Bundesanstalt für Arbeit zu einer Agentur mit «Jobcentern» um und legten Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen (vgl. «374 Euro im Monat» im Anschluss an diesen Text). Nicht alle Reformen hatten Bestand. Die Privatisierung der Arbeitsvermittlung zugunsten von Personal-Service-Agenturen (Hartz I) wurde 2008 wieder abgeschafft, auch die Förderung von «Ich-AGs» (Hartz II) gab man 2006 auf.

Dennoch war die Operation ein Erfolg – zumindest für die Unternehmen. Die Gefahr, etwa im Falle einer Firmenpleite nach einem Jahr bei Hartz IV zu landen, hat die Belegschaften diszipliniert. Der Wert der Ware Arbeitskraft ist im vergangenen Jahrzehnt weiter gesunken, die Lohnstückkosten sind im Vergleich und zum Nachteil anderer europäischer Nationalökonomien gering geblieben, die Wettbewerbsfähigkeit stieg weiter an, die deutsche Exportwirtschaft konnte die internationale Konkurrenz locker unterbieten. Gewiss: Es entstanden auch viele neue Stellen – zumeist aber auf erbärmlichen Niveau: schlecht bezahlt und befristet. Die Zahl der weitgehend rechtlosen LeiharbeiterInnen vervielfachte sich auf 900 000, die Hälfte davon verdient weniger als 1700 Franken brutto im Monat. Stundenlöhne von fünf Euro sind keine Seltenheit, und rund 1,3 Millionen Erwerbstätige erhalten sogar so wenig, dass ihr Lohn durch Hartz IV – also auf Staatskosten – aufgestockt werden muss. Eine Folge davon ist, dass die öffentlichen Haushalte nicht, wie geplant, entlastet wurden, sondern noch höhere Kosten tragen müssen. Rund 22 Prozent aller Beschäftigten – knapp sieben Millionen Menschen – arbeiten mittlerweile im Niedriglohnbereich.

Soziale Hängematte?

Der neofeudale Ansatz von Rot-Grün (man muss den Pöbel peitschen, sonst liegt er auf der faulen Haut) hat das gesellschaftliche Klima verändert: Nicht die PolitikerInnen, auch nicht die Unternehmen werden für die Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht, sondern die «Parasiten», wie der frühere SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement einmal die Arbeitslosen nannte. «Es gibt kein Recht auf Faulheit», sekundierte ihm seinerzeit Schröder. Dabei war die «soziale Hängematte» auch früher schon straff gespannt. Was jedoch weder die Springer-Presse noch die RTL-Sender davon abhält, den Refrain vom untätigen Nichtsnutz zu singen.

Zur Furcht vor dem Absturz, die nicht nur die Working Poor, sondern auch FacharbeiterInnen umtreibt, kommt die Demütigung. Und die Ausgrenzung. Über drei Millionen Hartz-IV-EmpfängerInnen seien «dauerhaft arbeitslos», konstatierte im Mai der Deutsche Landkreistag; das sind in etwa so viele Langzeitarbeitslose wie vor der Reform. Doch um sie kümmert sich – abgesehen von sozial engagierten Initiativen, die Sozialkaufhäuser und sogenannte Tafeln mit Gratislebensmitteln betreiben – kaum jemand. Auch die Gewerkschaften halten sich zurück.

Im Unterschied zur mitverantwortlichen grünen Mittelstandspartei hat sich die SPD bis heute nicht von diesem Kahlschlag erholt. Ihr hängt noch immer der Ruf des Sozialverrats an. Dies erklärt, weshalb der Vorsitzende Sigmar Gabriel jetzt – im Vorwahljahr – die Banken attackiert und eine Reichensteuer verlangt. Seinen Mitbewerbern um die SPD-Kanzlerkandidatur würde niemand solche Befreiungsschläge abnehmen: Walter Steinmeier und Peer Steinbrück hatten bei den Hartz-Gesetzen mitgewirkt.

Den Hauptverantwortlichen aber geht es ganz gut. Schröder berät den russischen Energiekonzern Gazprom und den Schweizer Ringier-Verlag. Florian Gerster (SPD), der damalige Leiter der Bundesanstalt für Arbeit, wurde zwar nach wenigen Jahren wegen dubioser Beraterverträge entlassen, stieg dann aber zum Vorsitzenden des Berufsverbands Briefdienste auf, dessen Mitglieder Sklavenlöhne zahlen. Clement, der in zahllosen Aufsichtsräten sitzt, erhielt einen Posten beim Leiharbeitskonzern Adecco und ist seit Juli Chef der von Metallkonzernen finanzierten Unternehmerlobby und PR-Agentur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Nur Peter Hartz hatte Pech: Er wurde 2007 wegen Untreue in 44 Fällen zu zwei Jahren Haft bedingt verurteilt. Jetzt lebt er als Privatperson im Saarland und entwickelt neue Arbeitsmarktkonzepte.

374 Euro im Monat

Bis 2005 bekamen Arbeitslose in Deutschland bis zu drei Jahren Arbeitslosengeld (meist 67 Prozent des letzten Nettolohns), danach unbefristet Arbeitslosenhilfe (durchschnittlich 53 Prozent). Das vierte Arbeitsmarktreformgesetz verkürzte die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds auf ein Jahr (nur ältere Lohnabhängige beziehen es maximal zwei Jahre lang) – und schaffte die Arbeitslosenhilfe ab. An ihre Stelle trat das Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Es liegt derzeit bei höchstens 374 Euro im Monat (plus Miete und Heizkosten).

6,1 Millionen Menschen beziehen Hartz IV und leben so am untersten Rand des Existenzminimums. Das sah auch das Bundesverfassungsgericht: Es lehnte 2010 die Hartz-IV-Leistungen als verfassungswidrig ab und prüft derzeit erneut die Gültigkeit der Sätze. Deren oft willkürliche Festlegung hat zu einer Klageflut geführt: Jeder dritte abgelehnte Widerspruch landet vor den Sozialgerichten; in fast der Hälfte aller Fälle (2011: 144 000 ) gaben sie den KlägerInnen recht.