Frankreich: Eine Prise Gerechtigkeit

Nr. 34 –

Wenn es darum geht, das Staatsdefizit zu beseitigen, kenne er «keine Tabus», sagt Frankreichs Präsident François Hollande. Dabei denkt er nicht nur an die Reichen.

Einer zeigt sich schon mal ungeduldig mit dem Sozialdemokraten François Hollande: Seine ersten hundert Tage als französischer Staatspräsident seien «eine verlorene Zeit» gewesen, mokierte Jean-Luc Mélenchon. Der ehemalige linke Flügelmann der französischen SozialdemokratInnen steht seit 2009 der von ihm gegründeten Linkspartei vor und bewarb sich ebenfalls um das Amt des Staatspräsidenten. Allerdings fiel er bereits im ersten Wahlgang aus dem Rennen. «Hundert Tage für fast nichts», bewertete er Hollands Arbeit in einem Interview.

Insbesondere vermisst Mélenchon von der neuen Regierung ein «dringend erforderliches Gesetz gegen börsenbedingte Entlassungen». Tatsächlich sieht sich Frankreich seit dem Amtsantritt von Hollande mit einer Entlassungswelle konfrontiert. Mindestens 65 000  Arbeitsplätze sind derzeit akut bedroht. Viele Unternehmen hatten während des Wahlkampfs ihre Pläne für Stellenstreichungen zurückgestellt – auf Bitten des damals noch amtierenden Präsidenten Nicolas Sarkozy, wie die Gewerkschaften monierten.

Gewerkschaften in den Ferien

Bislang habe die Regierung nur Kommissionen eingesetzt, statt zu handeln, kritisierte Mélenchon. Der Linkspolitiker meint damit etwa einen Ausschuss, den der neue Minister für die Wiederaufrichtung der Produktion, Arnaud Montebourg, ins Leben gerufen hat und der sich mit den Vorgängen beim Autohersteller PSA Peugeot Citroën befassen soll. PSA hatte Ende Juni die Stilllegung des Produktionsstandorts im Pariser Vorort Aulnay-sous-Bois angekündigt und damit die Streichung von 8000 Arbeitsplätzen. Montebourg will sich in den nächsten Wochen einen Untersuchungsbericht dazu vorlegen lassen. Schon auf Ende Juli hatte er in der Presse ein Treffen mit den zuständigen GewerkschafterInnen angekündigt. Dieses fand bisher jedoch nicht statt. Bei der Ankündigung hatte der Minister die GewerkschafterInnen noch gar nicht eingeladen. Und dann stellte sich heraus, dass die meisten in den Ferien weilten.

Der frühere Anwalt Montebourg äussert sich zu Mélenchons Kritik gelassen. Man dürfe nicht ungerecht sein, sagt er. Viele Dinge habe die neue Regierung bereits realisiert. Ansonsten rate er von sinnloser Ungeduld ab, denn dieses Kabinett stünde «noch 1800 Tage im Amt». Noch sei viel Zeit, Neues anzupacken.

Mindestlohn bleibt minimal

Auch wenn hundert Tage tatsächlich eine recht kurze Zeit sind, um die Arbeit einer Regierung zu beurteilen, ist der Unmut des Linkspolitikers Mélenchon doch nicht unberechtigt. François Hollande hat es etwa auf einem sehr symbolträchtigen Gebiet verpasst, sich von seinem bürgerlichen Vorgänger abzuheben: Die nur sehr geringe Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns Smic von 2 Prozent (abzüglich Teuerung sind es gerade mal 0,6 Prozent) kann als Indiz für den bescheidenen sozialpolitischen Gestaltungswillen Hollandes gesehen werden.

Der Smic beträgt derzeit rund 1100 Euro netto. Mit diesem Lohn ist es etwa in Paris schlicht nicht möglich, sich auf dem sogenannten freien Markt eine Mietwohnung zu leisten. Einmal im Jahr wird der Smic angehoben. Dabei ist die jeweilige Regierung dazu verpflichtet, ihn dem jährlichen Preisanstieg anzupassen. Früher hatte es Tradition, dass der Smic nach der Präsidentschaftswahl spürbar stärker anstieg. Nach der Wahl des Bürgerlichen Jacques Chirac von 1995 stieg er um vier Prozent und zwei Jahre später, nach der Parlamentswahl, um noch mal so viel – und dies bei einer ähnlich hohen Inflationsrate wie heute. Erst Präsident Sarkozy erhöhte den Smic ab 2007 um keinen Cent über den obligatorischen Inflationsausgleich hinaus.

Allerdings gibt es auch klare Verbesserungen: So wird seit dem 1. August in 43 Städten und Ballungsräumen Frankreichs der in den letzten Jahren schwindelerregende Höhenflug der Mieten durch eine gesetzliche Regelung blockiert. Bei einem MieterInnenwechsel dürfen VermieterInnen die Miete nicht mehr wie bisher grundlos erhöhen. Zulässig ist nur noch eine Anhebung im Umfang der Inflationsrate sowie dann, wenn Renovierungs- und Sanierungsarbeiten vorgenommen wurden.

Neue Steuern, teils unsozial

Im Grossen und Ganzen betreibt die neue sozialdemokratisch-grüne Regierung allerdings keine explizit beschäftigungsfreundliche Politik. Sie sorgt sich vielmehr um die «Wettbewerbsfähigkeit» der Unternehmen. Zwecks Steigerung derselben will sie denn auch die sogenannten Lohnnebenkosten senken, indem die Beiträge der Unternehmen an die Sozialversicherungskassen vermindert werden sollen. Dieselbe Strategie verfolgte bereits die alte konservativ-wirtschaftsliberale Regierung unter Sarkozy: Durch eine sogenannte «soziale Mehrwertsteuer» wollte sie die Senkung der Unternehmensbeiträge an die Sozialkassen mit einer Anhebung der Mehrwertsteuer um 1,6 Prozent auf 21,2 Prozent kompensieren. Gegen diese Pläne gab es dann allerdings massive Proteste aus den Gewerkschaften und von der Linken. Die Mehrwertsteuer gilt als unsozial, weil sie Arme stärker trifft als Reiche.

Sarkozys Plan ist Mitte Juli durch die neue linke Parlamentsmehrheit gekippt worden. Zur selben Zeit kündigte Präsident François Hollande allerdings eine andere Steuererhöhung an: Sie soll nicht sofort, wohl aber in rund einem Jahr kommen – und sie ist ebenso unsozial: Es handelt sich um die Heraufsetzung der Allgemeinen Sozialabgabe (CSG), die bislang in Höhe von 7,5 Prozent auf alle Einkommen ab rund 1000 Euro pro Monat erhoben wird. Diese Steuer, die auch EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld und Altersrenten zahlen müssen, soll um zwei bis vier Prozentpunkte angehoben werden. MindestlohnbezügerInnen werden also mehr zu zahlen haben, als sie mit der Erhöhung ihres Lohnes zusätzlich erhielten. Die oppositionelle Rechte höhnt und spottet über dieses Vorhaben. Der frühere Premierminister François Fillon fragte nicht zu Unrecht, wieso denn die Erhöhung der CSG nun sozialer sei als die zuvor geplante Anhebung der Mehrwertsteuer.

Über die Erhöhung der CSG will die Regierung im ersten Halbjahr 2013 endgültig entscheiden. François Hollande erklärte aber bereits, es werde «keine Tabus» geben, wenn der Staat seine Defizite zu bewältigen habe. Immerhin sollen bis dahin auch GrossverdienerInnen kräftiger zur Kasse gebeten werden: Eine Sonderabgabe für ZahlerInnen der Grossvermögenssteuer ISF steht voraussichtlich für November an. Ausserdem hatte Hollande im Wahlkampf eine Reichtumssteuer versprochen. Jährliche Einkünfte über dem Betrag von einer Million Euro pro Jahr sollen mit 75 Prozent versteuert werden. Die Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs wurde inzwischen angekündigt. Die Geltungsdauer der Steuer soll befristet sein: «Für die Dauer der akuten Krise der Staatsfinanzen», wie Premierminister Jean-Marc Ayrault sagte.

Halbherzige Rücknahme

Noch ist unklar, wie die Gewerkschaften auf die neue Sozialpolitik der Regierung reagieren werden. Als Nicolas Sarkozy im Herbst 2010 seine Rentenreform umsetzte, war der Protest heftig, aber letztlich vergeblich. Hollande wird sich hüten, im Stil seines Vorgängers die sozialen Errungenschaften zu torpedieren. So hat er einen Teil von Sarkozys Änderungen beim Pensionswesen rückgängig gemacht. Neuerdings ist es wieder möglich, bereits mit 60 Jahren in Rente zu gehen. Sarkozy hatte das Mindesteintrittsalter auf 62 angehoben. Allerdings verzichtete Hollande darauf, auch die erforderlichen Beitragsjahre von 41,5 Jahren zurück auf 40 Jahre zu senken. Damit bleibt es für die meisten dann doch wieder so, wie es am Ende von Sarkozys Amtszeit war.

Steuerparadies : Der französische Magnet

Die Schweiz steht derzeit an vorderster Front, wenn es darum geht, die Steuerpolitik des neuen französischen Präsidenten François Hollande zu torpedieren. Glaubt man den zahlreichen Immobilienmaklern, Vermögensberaterinnen und Bankern, die sich in diesen Tagen in Europas Finanzblättern wie etwa «Bloomberg Businessweek» zu Wort melden, so sind viele gutbetuchte FranzösInnen drauf und dran, in die Schweiz zu ziehen. Damit wollen sie der von Hollande in Aussicht gestellten Erhöhung der Einkommenssteuer entgehen (vgl. «Eine Prise Gerechtigkeit»).

Als Magnet wirken vorab verschiedenste Schweizer Kantone, die reichen AusländerInnen eine Pauschalbesteuerung anbieten. Sie sabotieren damit nicht nur die Steuerpolitik irgendeines europäischen Regierungschefs, sondern auch den einzigen Weg, wie Europa aus seiner derzeitigen Staatsschuldenkrise herausfinden könnte: Dieser besteht aus der stärkeren Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen. Anders als die derzeitige Schuldendoktrin, die sich darauf beschränkt, Löhne, Renten und staatliche Stellen zusammenzustreichen, würde eine strengere Besteuerung der Reichen kaum die Nachfrage bremsen, da Vermögende den Grossteil ihres Geldes ohnehin anlegen, statt es in Konsum zu stecken. Die wirtschaftliche Abwärtsspirale in Europa wäre gebremst. Zudem würde die Steuer – anders als IdeologInnen oft behaupten – nicht zu einem Rückgang der Investitionen führen. Im Gegenteil. Europa fehlt es nicht an Investitionskapital, sondern an Investitionsmöglichkeiten, weil die Konsumnachfrage fehlt.

Schliesslich wäre eine solche Steuer gerecht: Mit ihr würde lediglich die Tendenz hin zur zunehmenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen der letzten dreissig Jahre gebremst. Und die soziale Not, die sich in Europa breitmacht, gelindert.

Die Schweizer Kantone bieten nicht nur tiefe Steuern für FranzösInnen, die hierherziehen wollen. Der Schweizer Finanzplatz bietet auch Schlupfwinkel, wo FranzösInnen ihr Geld hinschaffen können, um es vor dem Fiskus zu verstecken. Im kürzlich in Frankreich erschienenen Buch «Diese 600 Milliarden, die Frankreich fehlen» schätzt Autor Antoine Peillon, dass ein Drittel der 600 Milliarden Euro unversteuerter Gelder Frankreichs in der Schweiz lagern. Eine Studie von 2009 spricht von rund 90 Milliarden. Entsprechend fordert Frankreich den automatischen Informationsaustausch von Bankdaten – und sträubt sich bis heute, mit der Schweiz ein Abkommen über eine Abgeltungssteuer auszuhandeln, wie es Britannien, Österreich und Deutschland getan haben.

Die Schweiz praktiziert heute faktisch jene Politik, die David Cameron medienwirksam verkündet. Mache Hollande ernst, so der britische Premierminister am letzten G20-Gipfel, werde Britannien Frankreichs Reichen den «roten Teppich ausrollen». Yves Wegelin