Mobiles Lernen: «Wir leben in einer digital geprägten Kultur»

Nr. 38 –

Die deutsche Medienpädagogin Petra Grell warnt: Auch wer mit digitalen Medien aufwächst – die sogenannten Digital Natives –, ist mitunter digital naiv. Und wer den Sprung in die digitale Welt scheut, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Gefragt sind neue Bildungsstrategien.

WOZ: Frau Grell, «lebenslanges Lernen» ist eines der grossen Schlagworte unserer Zeit. Digitale Medien sollen uns das versüssen – wie sehen Sie das?
Petra Grell: Mit den digitalen Medien eröffnen sich tatsächlich neue Möglichkeiten. Wir haben in grösserem Umfang Zugriff auf Informationen und Wissen, und wir können in Gruppen kommunizieren. Doch die Heilsvorstellung, dass durch das Web 2.0 alle an unserer Gesellschaft partizipieren, ist eine Illusion. Auch der grosse E-Learning-Hype hat sich wieder etwas abgeschwächt. Ebenso gibt es eher populärwissenschaftliche Stimmen, die Untergangsstimmung verbreiten mit der Sorge, durch die neue Entwicklung würde die gesamte Kulturgesellschaft zusammenbrechen. Doch Tatsache ist: Die Bedeutung, die der digitale Wandel für unsere Kultur hat, wird heute noch erheblich unterschätzt.

Sie meinen, wir stecken mitten in einer kulturellen Revolution?
Die Veränderungen sind enorm, gerade wenn wir von mobilen Geräten wie Smartphones ausgehen. Mit ihnen wird das Internet allzeit verfügbar. Egal wo – mir steht eine gigantische Informationsquelle zur Verfügung. Das war früher anders: Man musste den Weg in die Bibliothek oder zu einem Experten finden, was alles mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden war. Jetzt kann man immer sofort auf dieses Wissen zugreifen. Und man kann sich jederzeit mit anderen darüber austauschen, man kann seine Sicht der Dinge ausdrücken. Und manche nutzen es intensiv im Alltag. Schon mit dem Aufkommen der Handys und den SMS konnten wir beobachten, wie gerade Jugendliche dieses ständige In-Kontakt-Sein begeistert aufgegriffen haben.

Und wo liegt das Problem?
Die Notwendigkeit, sich in diesem Umfeld zu orientieren, wird immer grösser. Denn die Informationen, die mir immer und überall zur Verfügung stehen, sind nicht per se richtig, angemessen oder gut. Und wenn ich nicht über die entsprechenden Strategien verfüge, finde ich die Information, die ich suche, vielleicht auch gar nicht. Das heisst, all diese digitalen Medien eröffnen nicht nur Möglichkeiten, sondern machen es auch notwendig, dass man mit ihnen angemessen umgehen kann. Und hier gibt es erhebliche Unterschiede in den jüngeren Generationen: Nicht alle verfügen über die notwendigen Kompetenzen, sich in diesem Netz zu orientieren.

Dann sind die sogenannten Digital Natives also ein Mythos?
Das mit den Digital Natives stimmt so tatsächlich nicht, das belegen verschiedene Studien. Wer mit digitalen Medien aufwächst, ist nicht zwingend digital kompetent, sondern vielleicht auch nur digital naiv. Kinder und Jugendliche brauchen dringend Unterstützung, um die Kompetenzen zu entwickeln, die notwendig sind, um sich in einer digital geprägten Kultur bewegen zu können. Das ist eine grosse Herausforderung, zumal wir nicht davon ausgehen können, dass das pädagogische Fachpersonal, also die etwas ältere Generation, über diese Kompetenzen verfügt.

Sind die fehlenden Expertinnen und Experten nicht einfach ein Generationenproblem?
Hätten Sie mich das vor ein paar Jahren gefragt, hätte ich das bejaht. Ich dachte lange, dass sich das Problem mit den nachfolgenden Generationen auflöst. Das glaube ich jetzt nicht mehr.

Was macht Sie so skeptisch?
Die Medienbildung, die Medienpädagogik und auch die Mediendidaktik werden viel zu wenig in die pädagogische Ausbildung integriert. Dort fristen sie immer noch ein Nischendasein – als handelte es sich um blosse Nebenkompetenzen. Das spiegelt in keiner Weise die Tatsache, dass wir heute in einer digital und medial geprägten Kultur leben.

Gibt es denn überhaupt konkrete mediendidaktische Ansätze für die Schule?
Die gibt es – aber viele dieser Ansätze sind leider noch nicht in den pädagogischen Hochschulen, geschweige denn im Klassenzimmer angekommen. Im sogenannt situierten Lernen etwa knüpft man an konkrete komplexe Problemsituationen aus dem Lebensalltag der Lernenden an. Und auch forschendes Lernen lässt sich mit digitalen Medien – als Werkzeug in den Händen der Lernenden – komplex umsetzen.

Vermittelt mobiles Lernen Kindern und Jugendlichen so auch Kompetenzen, die der herkömmliche Unterricht nicht vermitteln kann?
Ja, auf jeden Fall. Gerade was den kompetenten Umgang mit digitalen Medien betrifft. Im Rahmen eines Projekts erleben die Kinder und Jugendlichen digitale Medien als ganz selbstverständliches Werkzeug zum Erarbeiten und Präsentieren von Ergebnissen. Und sie lernen, digitale Medien dazu zu nutzen, sich als handelnde Menschen die Welt anzueignen. Es geht also auch um die Fähigkeit, teilnehmen zu können an der Gesellschaft. Das sind Kompetenzen, die immer notwendiger werden, um sich als Persönlichkeit entfalten zu können: auf Information zugreifen, kommunizieren, mitbestimmen zu können.

Wie ist das bei Erwachsenen, die sich nur mit analogen Medien auskennen? Vermögen sie sich in einer immer stärker digital geprägten Welt überhaupt noch selbstbestimmt zu bewegen?
Es besteht tatsächlich die grosse Gefahr, dass diese Leute abgehängt werden. Denn wenn man seine Strategien zur Informationsbeschaffung und zur Kommunikation in vordigitalen Zeiten entwickelt hat, dann sieht man erst mal keinen Grund, warum sich das ändern sollte. Ich halte es für wichtig und absolut notwendig, für solche Leute immer wieder Bildungsangebote zur Verfügung zu stellen.

Und wie wollen Sie ausgerechnet älteren Menschen, die das Berufsleben hinter sich haben, digitale Welten schmackhaft machen?
Wir wissen aus Alltagsbeobachtungen, dass gerade die Grosselterngeneration dann anfängt, sich mit digitalen Medien und dem Internet zu beschäftigen, wenn sie zum Beispiel mit ihren Enkeln per Skype kommunizieren kann. Dann entsteht nicht nur Interesse, sondern das Ganze bekommt für sie auch eine Bedeutung. Solche Möglichkeitsräume nicht nur für Grosseltern zu schaffen, sondern dafür zu sorgen, dass kein Mensch von der digitalen Kultur abgeschnitten bleibt, halte ich für ganz wichtig. Es geht nicht darum, Computerkurse anzubieten – das sind reine Trockenübungen. Es geht darum, für konkrete lebensumweltliche Situationen und Interessenlagen Angebote zu kreieren, wo jede und jeder seinen eigenen Zugang entwickeln kann, um sich die digitale Welt zu erschliessen. Das hat viel mit sozialer Gerechtigkeit zu tun.

Petra Grell (44) ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Medien und lebenslanges Lernen 
an der Universität Potsdam. Sie lehrt und forscht zur Didaktik mit digitalen Medien.