«Judentum und Popkultur»: Wer kennt den Rockstar Lewis Allen Rabinowitz?

Nr. 39 –

Judentum und Popkultur? Da denken viele an jiddische Folklore, vielleicht noch an «Anatevka», das Musical. Dabei ist gerade die US-amerikanische Popmusik keinesfalls ohne die Beiträge jüdischer KünstlerInnen denkbar.

Wenn Caspar Battegay von Pop spricht, meint er «alles, was populär und so gut ist wie die ‹Eroica› von Beethoven». Diese grosszügige Definition stammt vom Schriftsteller Maxim Biller. In seinem Buch «Der gebrauchte Jude» erinnert sich dieser an ein Interview, das er 1984 mit Marcel Reich-Ranicki für die längst verblichene Zeitschrift «Elaste» geführt hatte. Was das denn für ein Blatt sei, wollte Reich-Ranicki wissen. Auf Billers Antwort, es gehe um Mode, Sex und Pop, wiederholte Reich-Ranicki leicht angewidert das P-Wort. Caspar Battegay zitiert diese Episode, und er ist sich mit Biller einig, dass nicht nur die «Eroica» Pop ist. Sondern auch Reich-Ranicki.

Leonard Cohen im Sportpalast

Battegay, der am Institut für Jüdische Studien der Universität Basel lehrt, diagnostiziert in seinem Essay «Judentum und Popkultur» eine vor allem unter Deutschen verbreitete «unüberwindbare Furcht, die bekannten Repräsentanten der Popkultur auch als Repräsentanten des Judentums wahrzunehmen». Diese Furcht untersucht er am Beispiel des Umgangs mit so unterschiedlichen Poperzeugnissen wie den Komödien mit Ben Stiller oder den Songs von Leonard Cohen. In Hollywoodfilmen wie «Meet the Parents» (2000) resultiert die Komik aus der Begegnung einer jüdischen mit einer White-Anglo-Saxon-Protestant-Bilderbuchfamilie. In der deutschen Fassung («Meine Braut, ihr Vater und ich») werden entsprechende Passagen einfach weggelassen oder «mit sinnfreiem Blabla substituiert». Von Cohens «Book of Longings» (2006) liegt eine ausgezeichnete deutsche Übersetzung vor, die Kritik ist begeistert. Die Übersetzung klammert aber die jüdischen Motive in Cohens Lyrik «säuberlich» aus, so Battegay. Offenbar besteht Säuberungsbedarf, das Verdrängte möge doch bitte verdrängt bleiben.

Dabei gibt sich gerade Cohen recht wenig Mühe, das Jüdische zu verbergen. Berühmt-berüchtigt sein grosser Popmoment aus dem Jahr 1972: Bei einem Konzert im Berliner Sportpalast – Cohen war gerade erst zum Liebling der Hippies aufgestiegen – liessen es die Fans an der gebührenden Aufmerksamkeit fehlen. Cohen brachte sie zum Schweigen. Mit einem einzigen deutschen Satz: «Wollt ihr den totalen Krieg?», rief er in den Saal.

«Damit ist er in die Haut seines absoluten Feindes geschlüpft, ein jüdischer Sänger nimmt auf parodistische Weise die Identität von Goebbels an. Damit hat Cohen genau das gemacht, was Judith Butler für die Subversion der Geschlechtsidentität fordert. Er stiftet Verwirrung mit den Mitteln der Parodie und der Vervielfältigung», erklärt Battegay gegenüber der WOZ. Und betont, dass er das Buch aus wissenschaftlichem Interesse geschrieben habe, nicht aus persönlicher Betroffenheit. Die Familie seines Vaters ist jüdisch, die seiner Mutter nicht, das habe aber kaum eine Rolle gespielt, er sei areligiös aufgewachsen.

Mit oder ohne Bindestrich

Viele Deutsche mögen ihre JüdInnen nach wie vor lieber demütig, nicht so offensiv wie diesen Sportpalast-Cohen. Weshalb der bittere Witz, nach dem die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen würden, etwas von seinem tieferen Sinn behält. Am Beispiel des Kinohits «Alles auf Zucker!» (2004) des Basler Regisseurs Dani Levy und einer Folge der Krimiserie «Schimanski» belegt Battegay, dass auch bei der Darstellung von JüdInnen im Deutschland des 21. Jahrhunderts gilt: Gut ist das Gegenteil von gut gemeint. Mit Klezmeruntermalung und Schläfenlocken werden Juden folklorisiert.

Diese Art der Markierung unterschlägt den Beitrag des Judentums zur quasi säkularen Popkultur. Und dieser ist fürwahr kein geringer: Praktisch die komplette Belegschaft des Brill Buildings, der sagenumwobenen Songwriterfabrik am Broadway, bestand aus Juden und Jüdinnen: Hier schrieben Carole King und Gerry Goffin oder Jerry Leiber und Mike Stoller Hits für Elvis, die Drifters und die Ewigkeit. Kein Punk in New York ohne Juden und Jüdinnen, so Steven Lee Beeber in seinem Buch «Die Heebie-Jeebies im CBGB’s. Die jüdischen Wurzeln des Punk».

Beebers Punkbegriff ist ähnlich freigeistig wie Battegays Popverständnis. Da ist Lou Reed genauso Punk wie die Ramones und der Komiker-Poet Lenny Bruce, dem auch Caspar Battegay ein Kapitel widmet. Und den Beastie Boys bescheinigt Beeber «smart-ass-anarchischen jüdischen Humor. Sie sind die Marx Brothers der Musik.» Beebers viel diskutiertes Buch zeichnet die Biografien jüdischer Einwandererkinder nach und belegt ihre Bedeutung für die Popkultur der grössten jüdischen Stadt ausserhalb Israels, man nennt sie auch «Jew York».

Auch wenn sich Battegay mehr für literarische, philosophische und identitätspolitische Motive des Judentums im Pop interessiert: Bei allen Unterschieden stossen Battegay wie Beeber auf dieselben Phänomene. Im Mutterland der Bindestrich-Identitäten gibt es US-AmerikanerInnen ohne Bindestrich, White Anglo-Saxon Protestants (Wasp), und solche mit, darunter African-Americans und Jewish-Americans, die Opfer der beiden grössten Menschheitsverbrechen. Battegay wie Beeber sehen im Bindestrich mehr Chance als Handicap. Mit einer Art «naivem Multikulturalismus» lässt Battegay sich aber nicht abspeisen, er plädiert – mit Judith Butler – fürs Uneindeutige: Ambivalenzen zulassen, Zuschreibungen unterlaufen, Identitäten wechseln wie Namen. Das sind Kulturtechniken, manchmal Überlebenstechniken, die man sich allerdings vor allem auf der Flucht, in der Diaspora, im Exil aneignet.

Neuer Name, neues Glück?

«Hip im Exil» heisst das spannendste Kapitel in Battegays Buch. Darin schlägt er den Bogen von der weissen Weihnacht zu einem Hip-Hop-Artisten mit dem sprechenden Namen DJ Socalled. «White Christmas», das weltweit populärste Weihnachtslied, stammt aus der Feder eines gewissen Israel Isidore Beilin. Der Sohn eines russischen Kantors wurde als Irving Berlin zu einem der erfolgreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Berlin sei sich seines Judentums politisch sehr bewusst gewesen, habe es aber in Hunderten von Songs nie ausdrücklich zum Thema gemacht, so Battegay.

Allen Konigsberg dreht Filme unter dem Namen Woody Allen, Lewis Allen Rabinowitz kennen wir als Lou Reed, die Eltern von Thomas Erdelyi entkommen knapp den Nazis und flüchten von Ungarn nach New York, ihr Sohn schreibt Popgeschichte als Tommy Ramone. Bindestrich-Identitäten sind häufig Alias-Identitäten. Neuer Name, neues Glück. DJ Socalled – DJ Sogenannt – ist der «nom de guerre» des kanadischen Rappers Josh Dolgin. Der verarbeitet – verfremdet, veruneindeutigt – das beliebte jiddische Lied «Mein Schtetele Beltz» für seine Hip-Hop-Bastard-Musik.

Pop erlaube heute mehr denn je ein Ausspielen von diversen Identitäten, von Brüchen und vieldeutigen Symbolen, meint Battegay. Das Ganze ist das Falsche. Wusste schon Theodor W. Adorno. Noch so ein Popjude. Der Pop verabscheute.

Caspar Battegay: Judentum und Popkultur. Ein Essay. Transcript Verlag. Bielefeld 2012. 145 Seiten. Fr. 28.40