Wirtschaft und Ethik: Ein rotes Tuch für Marktliberale

Nr. 47 –

Nach dem Aufruhr um Ulrich Thielemann vor drei Jahren hat die Uni St. Gallen (HSG) die Wirtschaftsethik gestärkt und gleich zwei Lehrstühle installiert. Florian Wettstein ist einer der beiden neuen Professoren – und hat sich bei Marktradikalen bereits unbeliebt gemacht.

HSG-Wirtschaftsethiker Florian Wettstein: «Diejenigen, die uns in diese Krisen geführt haben, sollen uns jetzt herausführen? Das klappt offensichtlich nicht.»

Wie ein sauertöpfischer Moralapostel kommt Florian Wettstein nicht daher. Smart, liebenswürdig und moderat im Stil wirkt der junge Ethikprofessor der Universität St. Gallen (HSG). Im Gegensatz zum umstrittenen Ulrich Thielemann, der streng akademisch und verschachtelt formulierte, und die HSG im Juli 2010 verliess, spricht Wettstein klar und verständlich. Und so unprätentiös der Spross einer Unternehmerfamilie sich im Gespräch gibt – harmlos ist das, was er zu sagen hat, deswegen nicht. Zumindest nicht für die Marktradikalen im Land.

In die politischen Karten lässt sich Wettstein allerdings nicht blicken. Ein Linker ist er wohl nicht. Er verstehe sich als Wissenschaftler. Mehr lässt er sich dazu nicht entlocken. Florian Wettstein fordert ein «fundamentales Umdenken» bei Führungskräften, ProfessorInnen und PolitikerInnen. Ethische Standards, Nachhaltigkeit und Verantwortungsbewusstsein als Medizin gegen reines Effizienz- und Profitmaximierungsdenken. Dass die alten Rezepte nicht mehr funktionieren, führten die Finanzplatzkrise und der Steuerstreit täglich vor Augen. Man müsse reinen Tisch machen.

Illusionen gebe er sich aber nach Jahren der Krisen nicht hin, sagt Wettstein: «Es braucht eine neue Generation, wenn wir diesen Wandel schaffen sollen, das wird zwanzig Jahre dauern. Diejenigen, die uns in diese Krisen geführt haben, sollen uns jetzt herausführen? Das klappt offensichtlich nicht.» Zwar sei das Regelwerk inzwischen engmaschiger, aber ein Umdenken habe kaum stattgefunden. «Auch in engmaschigen Regelwerken gibt es Schlupflöcher.»

Doppelt so viel Ethik

Interventionen tun not, um den moralischen Ruf des Wirtschaftsstandorts Schweiz ist es nicht zum Besten bestellt. Statt Bewunderung für das Wirtschaftswunderland schlägt der Schweiz von überall unverhohlen Kritik entgegen. Selbst aus dem charmanten Österreich. Letzte Woche sagte ein österreichischer Finanzprofessor in der ORF-Sendung «Club», die Schweiz habe jahrzehntelang einen verdeckten Wirtschaftskrieg gegen andere Staaten geführt, sich an deren Steuersubstrat bedient und darauf ihre blühende Volkswirtschaft aufgebaut.

Als der HSG-Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann im Frühjahr 2009 vor einem Gremium des Deutschen Bundestags den Schweizer Führungskräften in Wirtschaft und Politik ein mangelndes Unrechtsbewusstsein in Sachen Steuerdelikte vorwarf, schäumten die Eliten gegen den «Nestbeschmutzer», manche forderten seine Entlassung. Das Geschäftsmodell Schweiz und das Bankgeheimnis waren damals bereits unter Druck. Auch liess sich der Stellenwert der Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen an der Platzierung des Instituts erkennen: Die WirtschaftsethikerInnen waren in einer Bruchbude an der Guisanstrasse untergebracht. Inzwischen residieren sie im obersten Stock einer renovierten Villa auf dem Rosenberg – Büros in vornehmem Weiss und Grau gehalten. Die Wirtschaftsuniversität, deren Leitung im Fall Thielemann kläglich versagt hatte, reagierte auf den krisenbedingten Druck auf die Managerausbildungsstätte und installierte gleich zwei Lehrstühle für Wirtschaftsethik. Nach der Emeritierung von Peter Ulrich lehrt nun dort neben Florian Wettstein, einst Assistent bei Peter Ulrich, der als «wertneutral» geltende Thomas Beschorner, der vor seiner Berufung in Montreal unterrichtete.

Ethik bloss Wahlfach

Trotz ramponierten Rufs der ManagerInnen – Verantwortungsbewusstsein und ethische Standards waren und sind an der Universität St. Gallen immer noch nicht integraler Bestandteil der Managerausbildung. Wirtschaftsethik ist nach wie vor Wahlfach. «Die Diskussion, wie Ethik stärker an die Kernausbildung angebunden werden kann, wird durchaus geführt. Am besten wäre es sicherlich, wenn Fragen der Verantwortung und Ethik in den einzelnen Disziplinen eingebettet wären und die Wirtschaftsethik dazu den Rahmen liefert», sagt Florian Wettstein. Als er an der HSG Wirtschaftswissenschaften studierte, waren ethische Fragen in den Kernfächern bestenfalls eine Randnotiz wert, «mehr eine Feigenblattangelegenheit». Um viel mehr als Effizienz und Profitmaximierung sei es damals kaum gegangen. «Mir persönlich fehlte der Tiefgang im Studium, mir fehlten die grossen Fragen, in wessen Interesse und zu welchem Zweck wir wirtschaften», erinnert er sich. Er fand diesen Tiefgang in der Wirtschaftsethik und schlug eine Wissenschaftskarriere ein. Vor seiner Berufung nach St. Gallen im letzten Jahr lebte er sieben Jahre in den USA, wo er als Assistenzprofessor an der University of St. Thomas in Minneapolis lehrte.

Gutachter für Schmähpreis

Zum Steuerstreit, der 2009 Ulrich Thielemann wohl die Professur an der HSG gekostet hat, haben sich die beiden neuen Dozenten öffentlich bislang nicht geäussert, denn «wir hatten dazu erstaunlich wenige Anfragen». Florian Wettstein ist dennoch ins Fadenkreuz der Marktradikalen geraten. Die «Weltwoche» denunzierte kürzlich eine Reihe von ProfessorInnen unter dem Titel «Vor diesen Professoren wird gewarnt». Auch vor Florian Wettstein und zwei, drei anderen HSG-Professoren «warnte» das Blatt. Ersterer sei ein «glühender Ethikapostel».

Übel nahm die «Weltwoche» Wettstein, dass er in einem Interview gesagt hatte, Ulrich Thielemanns Bankgeheimniskritik habe «aus wirtschaftsethischer Sicht Hand und Fuss». Seine kritischen Äusserungen zum Rohstoffplatz Schweiz im «SonntagsBlick» machen Wettstein offenbar ebenfalls gefährlich. Er wies auf das Reputationsrisiko hin – die Rohstoffunternehmen hätten einen zweifelhaften Ruf. «Ich habe vom Ruf gesprochen, nicht in erster Linie davon, dass die Firmen zweifelhaft sind. Der schlechte Ruf lässt sich faktisch kaum widerlegen. Die Firmen selbst müssen ein Interesse daran haben, diese Zweifel auszuräumen.» Er sei, behauptete das Wochenblatt, Jurymitglied des internationalen Schmähpreises Public Eye Award, der am Weltwirtschaftsforum in Davos Firmen an den Pranger stelle, die Menschen- und Umweltrechte verletzen. Schlecht recherchiert oder falsch zitiert: Florian Wettstein ist – anders als Ulrich Thielemann – nicht Jurymitglied, er erstellt Gutachten zu den Nominationen für den Preis. Den Professor ficht die Schmähung nicht an. «Eine Wirtschaft, die auf Selbstregulierung setzt, muss daran interessiert sein, dass eine kritische Öffentlichkeit die Durchsetzung dieser Regeln kontrolliert. Dieser Druck ist nötig und bringt die Wirtschaft weiter», sagt Wettstein, der in der globalen Durchsetzung von Menschenrechten eine der zentralen Aufgaben der Zukunft sieht.

Und wie steht Wettstein zum Steuerwettbewerb? «Man geht stillschweigend davon aus, dass Wettbewerb per se gut sei. Doch wir müssen fragen: Wem nützt er? Allen oder bloss wenigen? Der Steuerwettbewerb zeigt, dass er in ein schädliches Ausmass abgleiten kann. Wenn sich Firmen aus Griechenland, das Steuersubstrat dringend nötig hat, wegen tieferer Steuern in der Schweiz ansiedeln, dann ist das mehr als problematisch. Letztlich ruinieren sich in diesem Wettbewerb die Staaten gegenseitig. Hier sind tatsächlich globale Regelungen nötig.»

Die reine Lehre vom Wettbewerb

Florian Wettstein sieht sich nicht als Professor im Elfenbeinturm der Forschung. Vernetzung mit allen AkteurInnen der Gesellschaft sei ihm wichtig. Ein kleines Institut wie dasjenige für Wirtschaftsethik kann sich zwar mit Nationalfondsprojekten und staatlichen Geldern über Wasser halten. Aber wie die anderen Institute der Universität St. Gallen generiert es mit Forschungsaufträgen von Privaten Drittmittel. Das können Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace, Grossverteiler oder Pharmaunternehmen sein. «Unsere wissenschaftliche Unabhängigkeit steht dabei an oberster Stelle. Scheint sie uns durch einen Auftrag gefährdet, lehnen wir ab. Das ist eine Gratwanderung.» Praxisnähe sei dem Institut aber wichtig. Und bei Worten haben sie es nicht belassen: Seit letztem Jahr bietet das Institut einen Weiterbildungskurs in Unternehmensverantwortung an. Was das nützt? In zwanzig Jahren wird mans wissen.