Schweiz–EU: Die falsche Europadebatte

Nr. 51 –

Christoph Blocher hat recht. Zumindest in einem Punkt: Die Forderung des EU-Rats an die Schweiz, im Rahmen der bilateralen Verträge neues EU-Recht automatisch zu übernehmen, ist inakzeptabel. Genauso ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), wie er nun wieder ins Spiel gebracht wird. Die hiesige Bevölkerung muss sich an der Schaffung der Gesetze beteiligen können, denen sie unterworfen wird. Und sei es vertreten durch ein Parlament.

Das sei ein Gebot der nationalen Souveränität, glaubt SVP-Chefideologe Blocher. Hier hört die Einigkeit auf. Ein Land wie die Schweiz, das im Herzen Europas liegt, dessen Grenze täglich 1,3 Millionen Menschen und ungeheure Mengen von Waren überqueren, braucht mit seinen Nachbarn gemeinsame Regeln. Und diese Regeln kann es nicht im Alleingang bestimmen. Die Schweizer Souveränität ist ohnehin ein Mythos: Nachdem das Land am 6. Dezember 1992 Nein zum EWR gesagt hatte, machte sich der Bundesrat daran, die Interessen der Wirtschaft durch bilaterale Verträge und die autonome Übernahme von EU-Recht zu sichern. Inzwischen sind sechzig Prozent des Schweizer Rechts zumindest weitgehend jenem Europas angepasst. Die Schweiz wählte einen abgespeckten EWR durch die Hintertür.

Dagegen konnte auch die Wirtschaftspartei SVP nichts haben. Bis heute lässt sie jedoch die Linken und die anderen Bürgerlichen den Kopf für diese Politik hinhalten. Während Blocher regelmässig vor Schweizer Bergkulisse und Nationalflagge die Souveränität beschwört – und damit fast zwanzig Jahre lang von einem zum nächsten Wahlerfolg hüpfte.

Gleichzeitig hat die SVP damit der Schweiz die falsche Debatte aufgedrückt: Souveränität – ja oder nein? Je mehr das Land zugunsten der Wirtschaft EU-Recht übernahm, desto lauter begannen auch die übrigen Bürgerlichen, sich als WächterInnen der Souveränität zu inszenieren. Um ihre WählerInnen bei der Stange zu halten. Und auch ein wenig, weil sie sich gerne so sehen. Und in Momenten der Einsicht können sie sich damit beruhigen, mit der Aushöhlung der Souveränität ja ohnehin nur gegen ein urkonservatives Prinzip zu verstossen, das es im 21. Jahrhundert zu überdenken gelte.

Genau so verläuft die Debatte auch in diesen Tagen, da die offizielle Haltung des EU-Rats gegenüber der Schweiz bekannt geworden ist: Neben der Rechtsübernahme fordert der Rat eine gemeinsame Überwachungsbehörde und Gerichtsinstanz. Die SVP poltert, FDP und CVP flüchten in eine technokratische Debatte über institutionelle Arrangements, mit denen sie behaupten, die Souveränität retten zu können. Vereinzelte Stimmen fordern den EWR-Beitritt mit dem Verweis, die Souveränitätsidee sei überholt. SP und Grüne hadern.

Damit wird die entscheidende Debatte vollkommen verdrängt: Die Ablehnung der automatischen Rechtsübernahme, eines EWR-Beitritts wie auch des bisherigen bilateralen Wegs ist kein Gebot der nationalen Souveränität. Sondern der Demokratie. Die Schweiz braucht mit ihren Nachbarn gemeinsam vereinbarte Regeln – entsprechend ist auch gegen die EU-Forderung nach einem gemeinsamen Gericht nichts einzuwenden. Inakzeptabel ist, dass sich die hiesige Bevölkerung nicht an der Schaffung dieser Gesetze beteiligen kann. All jenen, die der Welt die Schweizer Demokratie gerne als Leuchtturm präsentieren, sollte dies zu denken geben.

Im Prinzip gibt es nur einen Weg da raus: Gemeinsame Gesetze müssen in einem gemeinsamen Parlament geschaffen werden. Das bedeutet: Beitritt zur EU. Nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis heraus hatte der Bundesrat kurz vor der EWR-Abstimmung der Bevölkerung diesen in Aussicht gestellt. Das Problem ist, dass die EU bis heute keine echte Demokratie ist: Den Ton in Brüssel geben Europas Grossmächte Deutschland und Frankreich an – sowie Tausende WirtschaftslobbyistInnen. Das Parlament, wenn auch schrittweise gestärkt, bleibt oft aussen vor.

Das ist das Dilemma, vor dem die Schweiz steht: Entweder sie lässt ihre Demokratie verkümmern, oder sie tritt einer undemokratischen Union bei – allerdings mit der Aussicht, sich für ein demokratisches Europa engagieren zu können. Die Parteien sollten ihren WählerInnen diese Wahl endlich auf den Tisch legen. Diese Debatte ist überfällig.