Medientagebuch: Chinesische Träume

Nr. 3 –

Wolf Kantelhardt über einen Streik beim «Südlichen Wochenende».

«Die Geschichte von Yu dem Grossen, der vor 2000 Jahren die Fluten bekämpfte …» – Autsch! So eine renommierte Zeitung, und dann so ein Fehler. Yu, einer von Chinas legendären Herrschern, hat zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung gelebt. Falls es ihn gab. Doch lesen wir weiter: Yu «… erzählt uns, wie das chinesische Volk mit seiner starken Einigkeit …» – hier ist ein Schriftzeichen falsch! Der Sinn verändert sich damit etwa so, wie wenn im Deutschen «Einigkeit macht Quark» stünde. Im Neujahrseditorial einer Wochenzeitung mit einer Auflage von 1,6 Millionen sollte das nicht passieren. Aber weiter: «… und Unbeugsamkeit den Traum von einer umfassenden Ordnung, von grossem Reichtum und Glück verfolgt hat. Nach über einem halben Jahrhundert glorreichen Aufbaus des Staates durch die Kommunisten und nach über dreissig Jahren überwundener Schwierigkeiten bei der Reform- und Öffnungspolitik zeigen sich nun die Erfolge: Noch nie war dieser Traum so nah.»

Sehr pathetisch. Wer schreibt so was? Um diese Frage geht es in der Tat: In zwei offenen Briefen beschuldigten MitarbeiterInnen der Zeitung «Südliches Wochenende» den Funktionär Tuo Zhen, er habe diesen Text ohne Rücksprache mit der Redaktion in die Zeitung gesetzt. Tuo Zhen leitet das Ministerium, das früher «Propagandaministerium» hiess. Inzwischen nennt es sich «Informationsministerium». Von InternetnutzerInnen wird es «Ministry of Truth» genannt: das Wahrheitsministerium.

Das ursprüngliche Editorial der Zeitung erklärte, dass nur die Umsetzung der chinesischen Verfassung die Würde und Freiheit des Einzelnen garantieren könne. Der Traum von einem freien Volk in einem unabhängigen Land sei auf keinem anderen Weg zu verwirklichen. In der Version des Ministers geht es genau anders herum: Die uneingeschränkte Macht des Staats ist der Ausgangspunkt.

Das Management der «Süden»-Mediengruppe fiel seinen MitarbeiterInnen in den Rücken: Das Editorial sei sehr wohl von ihnen verfasst worden, die Chinesischfehler bitte man zu entschuldigen. Die RedaktionsmitarbeiterInnen antworteten in ihren privaten Mikroblogs, der Verlag habe dem Druck des Vizevorsitzenden des Propagandaministeriums nachgegeben, eines Manns, der auch das interne Parteikomitee der «Süden»-Mediengruppe leitet. Sie traten in den Streik. Darauf reagierte das Ministerium mit einer eigenen Stellungnahme: Erstens, die Kontrolle der Partei über die Medien sei ein unerschütterlicher Grundsatz. Zweitens, die Probleme bei der Veröffentlichung des «Südlichen Wochenendes» hätten mit Tuo Zhen nichts zu tun. Drittens, bei dieser Sache seien feindliche Kräfte aus dem Ausland am Werk.

Suchmaschinen und Mikrobloganbieter sperrten sofort Begriffe wie «Editorial» und «Verfassung», aber auch «Süden» und «Wochenende». Zeitungen wurden gezwungen, einen Kommentar der ultranationalistischen «Global Times» nachzudrucken, in dem es hiess, es sei allgemein bekannt, dass es bei den derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen keine freie Presse geben könne. Man hoffe, dass alle, die das «Südliche Wochenende» schätzten, mithelfen würden, die Wogen zu glätten, und nicht eine Zeitung dazu zwängen, die Rolle eines Widerständlers zu spielen, die sie ja doch nicht durchhalten könnte. In der folgenden Ausgabe des «Südlichen Wochenendes» wurde die ganze Affäre mit keinem einzigen Wort erwähnt. Der Traum von einem baldigen Ende der Zensur ist vorbei.

Wolf Kantelhardt schreibt für die WOZ 
aus China.