Robert Pfallers «Zwei-Welten-Lehre» : Gegen die Unlust an der Lust

Nr. 8 –

Die Folgen postmoderner Reinheitsfantasien: Der Kulturphilosoph Robert Pfaller entlarvt, wie Konzepte von «Partizipation» oder «Transparenz» einer neoliberalen Volkspädagogik zudienen.

Im dänischen Spielfilm «Adams Äpfel» (2005) von Anders Thomas Jensen berichtet Pastor Iwan dem Neuankömmling Adam von den Erfolgen seiner zwei Schützlinge in der Strafrehabilitation: Gunnar, ein Sexualstraftäter und Dieb, und Khalid, ein gewalttätiger Tankstellenräuber, seien nunmehr rechtschaffene Bürger. Als ihn Adam darüber aufzuklären versucht, dass Gunnar noch immer säuft und beide noch immer stehlen, will Iwan nichts davon wissen.

Aber ausgerechnet der Neonazi Adam zwingt Pastor Iwan, der Realität ins Auge zu blicken. Doch als er ihn so weit hat, wird es erst richtig schlimm: Unmittelbar nach der Zerstörung der Illusionen regt sich in Khalid die Mordlust wieder, und Gunnar wird zum Perversling.

Es war also Iwans Illusion des Guten, die es den beiden erlaubte, sich selbst vorzumachen, sie seien diese «Besseren», für die sie Iwan hielt. Und so lohnte es sich für sie, auch sein religiöses Theater mitzuspielen. Adam hingegen richtet mit dem Vorhaben, die drei aus der Scheinheiligkeit zu befreien und ganz von ihren schmutzigen Geheimnissen zu reinigen, grossen Schaden an. Gerade sein unbedingter Aufklärungswillen drängt sie zu den Missetaten, vor denen er sie bewahren will.

Gleichgültige und Fundamentalisten

Diese Geschichte ist vielleicht nicht die feinste, aber eine der klarsten Parabeln auf den masslos verengten Wirklichkeitsbegriff der Postmoderne – oder auch auf den Realitätsverlust einer authentizitätsbesessenen Gesellschaft. Der Philosoph Byung-Chul Han sieht darin eine «Transparenzgesellschaft», die die Möglichkeit verloren hat, sich selbst nach aussen zu überschreiten: «Transparenz ist ohne Transzendenz. Die Transparenzgesellschaft ist durchsichtig ohne Licht. Im Gegensatz zum Licht ist sie penetrant und penetrierend.» In letzter Konsequenz wird sie zur «Kontrollgesellschaft».

Ihre paradigmatischen Gestalten sind auf der einen Seite die Gleichgültigen, die nicht mehr wissen, wofür es sich zu leben lohnt, und sich bei jeder Gelegenheit als unbeteiligte Opfer von rücksichtslosen Dritten sehen – und auf der anderen Seite FundamentalistInnen, die niemandem gönnen, was sie sich selbst versagen. Jene wollen ihre Ruhe, diese die Reinheit der anderen. Ihre Imperative lauten: «Stör mich nicht!» und «Sei du selbst!». Kurz: Lass nichts Fremdes, keine Widersprüche und keine Zweideutigkeiten zu! Auch wenn sich der Widerstand dagegen zu formieren beginnt: Ein Ende der Ausbreitung dieser Logik ist noch nicht in Sicht.

Wie konnte es nur dazu kommen, dass der Linken plötzlich das Wofür ihrer Kämpfe abhandenkam und sie ihre Mittel zu Zielen machte? Dass Begriffe wie Dekonstruktion, Partizipation und Transparenz wichtiger wurden als die Forderung nach Gerechtigkeit – und so gar zu wirksamen Begriffen neoliberaler Volkspädagogik verkamen?

Fast geht es der Linken heute so wie Platon in einer Anekdote mit Diogenes: Platon, unermüdlicher Prediger einer rein geistigen Partizipation an den Dingen dieser Welt, kommt hungrig auf den Marktplatz und bittet Diogenes um einen Teil von dessen Apfel. Diogenes erlaubt ihm grosszügig, daran zu partizipieren. Doch als Platon hineinbeissen will, nimmt er ihm den Apfel aus der Hand: «Ich sagte teilhaben, nicht aufessen.»

Nicht zufällig ist ja der Desillusionierungsprediger in «Adams Äpfel» ein Neonazi – damit noch dem Letzten klar wird, dass das wirklich schmutzige Geschäft nicht die kleinen Lügen der anderen, sondern übersteigerte Reinheitsideale sind. Ebenfalls nicht zufällig speist sich der spontane Widerstand gegen die daraus folgende neoliberale Transparenzgesellschaft oft aus dem geistigen Arsenal von rechts. Es droht wieder das Gespenst der «politischen Romantik», jener reaktionärer Ursprungssehnsucht, die bereits der geistige Nährboden für die Nazis war.

In der Wirtschaft werden plötzlich einfache Urphänomene entdeckt, die die Entfremdung der Menschen wie von selbst stoppen sollen. Die Kultur wird in geschlossene Kreise gebannt und der Fortschritt verpönt; Geschichte wird in Mythos verwandelt – und in diesem das erst Ersehnte als Verlust und Verfall fantasiert. Die Erzählungen von der unschuldigen Realwirtschaft mit ihren guten Patrons zehren genauso davon wie die Theologie von Papst Joseph Ratzinger, SVP-Kampagnen ebenso wie die theoretischen Grundlagen der Occupy-Bewegung.

Rechtspopulisten als Genussmenschen

Solche Verstrickungen als rückwärtsgewandte Kindereien zu verhöhnen, ist ein Leichtes, führt aber nicht weiter: Auch kritisch gedachte Verkürzungen der Wirklichkeit tragen zur Wiederkunft der politischen Romantik bei. Die Faszinationskraft des Einfachen, Ursprünglichen und Reinen ist hier wie dort am Werk – rechts wie links.

Der Wiener Kulturphilosoph Robert Pfaller weist seit Jahren auf die fatalen Folgen postmoderner Reinheitsfantasien hin. Seine zwei letzten Bücher – «Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie» und «Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere» – forcieren zudem das Bemühen, nicht selbst in der reinen Dekonstruktion stecken zu bleiben.

In «Zweite Welten» treibt Pfaller seine Theorie jener feinen Dinge voran, die individuelle und gesellschaftliche Lust- und Unlustökonomien steuern. Im zentralen Stück «Die Erschwernisse des Staunens. Über die soziale Funktionsweise von Wundern» setzt sich Pfaller mit dem Mythos auseinander und erörtert darin den Umstand, dass nicht nur die Dummen an Wunder glauben, sondern gerade auch das Wissen «als Möglichkeitsbedingung von Wundern fungieren kann».

Dieses Wissen ist ein doppeltes: zum einen die Überwindung des naiven Glaubens, für den Übernatürliches oder Aussergewöhnliches normal ist, zum andern das Wissen von einem Mythos, der für das Unerklärliche, das auch aufgeklärten Menschen begegnet, eine Erklärung liefert. Wer diesem Mythos Glauben schenken mag, kann die lustvolle Erfahrung eines Wunderglaubens oder des Staunens machen. Er suspendiert für diesen Fall seine Urteilskraft und lässt eine partielle Regression zu, ohne dadurch die aufgeklärte Selbstachtung verlieren zu müssen.

Pfaller sieht nun aber heute die Tendenz, sich im Namen totalitärer Logiken – der Sicherheit, Authentizität oder auch einfach des sogenannten Pragmatismus – alle überschreitenden Praktiken zu versagen oder gar zu verbieten. Dass sich demgegenüber gerade Rechtspopulisten wie Silvio Berlusconi, Jörg Haider, Christoph Blocher oder Geert Wilders als schillernde Querköpfe und Genussmenschen präsentieren können, ist, wie Pfaller schon im früheren Essay «Populismus: Der Schmutz der Saubermänner» vorführte, ein Effekt der zunehmenden Genussfeindlichkeit grosser Teile des linksliberalen Establishments. Wer den Populisten folgt, geniesst «trotzig gegen den vermuteten Willen» der Autoritäten.

Die geistige Verarmung der Öffentlichkeit, die keine kollektive Praxis des Enthusiasmus oder der Erhabenheit mehr hat, zeigt sich vor allem daran, dass Schmutz und Abweichung dieser Welt den gemeinen Bürger nur noch katastrophisch stimmen oder anwidern – und dass ihm die «Ideenfülle seines eigenen Gemüts» fehlt, «mit der eine grässliche Anschauung» auch mal in ein Gefühl des Erhabenen verwandelt werden könnte.

Und so ist das Geniessen des anderen nicht mehr eine mögliche Quelle eigener Lust, sondern nur noch ein Exempel für Unvernunft. Eine solche Gesellschaft kann selbstredend in Exzessen, Perversionen, Schmutzigkeiten und Grenzübertretungen nicht ihre zweite Welt erkennen, deren Existenz in einem ritualisierten und abgegrenzten Rahmen vielleicht gerade verhindern würde, dass ihr «Pendant in der ersten Welt zur Wirkung» gelangt. Es entwickelt sich eine kollektive Unlust- und Neidkultur, worin man verlernt hat, für sich selbst etwas zu fordern. Flirt und Kompliment werden zum Übergriff, Rauchen zum Inbegriff der Rücksichtslosigkeit, und GewerkschafterInnen, die sich für Renten und Löhne wehren, werden der Verteidigung von ungerechtfertigten Privilegien bezichtigt.

«Gouvernantenhafte Pseudopolitik»

Spätestens an diesem Punkt wird die politische Dimension von Pfallers Überlegungen deutlich. Denn das Blossstellen einer zweiten Welt, die die kleinen, verbotenen Genüsse deckt, führt keineswegs zu einer aufgeklärten Wirklichkeit. Vielmehr, so Pfaller, bedarf gerade die Beraubungspolitik des Neoliberalismus der Begleitung «einer scheinbar um unser Wohl besorgten, gouvernantenhaften Pseudopolitik sowie einer Reihe von Erzählungen, die uns suggerierten, dass wir nicht beraubt, sondern vielmehr von Zwängen und ‹Normierungen› und Zumutungen anderer befreit würden. (…) So fern das internationale Kapital und seine Profiteure sein mögen; seine Komplizen sind ganz nah.»

Pfallers Fazit lautet daher: «An den kleinen, mikropolitischen Fronten der Kämpfe gegen die Verbotspolitiken, die Bürokratisierungen der Gesellschaft, die Evaluierungs- und Kontrollzwänge entscheidet sich darum heute der Kampf gegen die grosse neoliberale Umverteilung.»

Dagegen ist eingewendet worden, dass die Pseudopolitik nur gouvernemental werden könne, wenn sich damit Geld machen liesse. Aber es ist gerade das Verdienst von Pfallers Beharren auf der Psychoanalyse, zu zeigen, dass primär die Triebökonomie die Richtung einer Gesellschaft bestimmt und sich das grosse Geld immer da einfindet, wo die Affekte der Leute festsitzen und sich kontrollieren lassen.

Robert Pfaller: Zweite Welten. 
Und andere Lebenselixiere. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2012. 267 Seiten. Fr. 32.90