Kommentar von Dieter Sauter, Istanbul: Europa hat genügend Anlass zur Unruhe

Nr. 9 –

Die EU will keine Aussengrenze zu den Krisengebieten des Mittleren Ostens. Durch die Nato-Mitgliedschaft der Türkei hat sie diese jedoch längst.

Die Türkei, die Türkei – da war doch noch was?! Ach ja, die Verhandlungen über eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Als die EU-Kommission vor drei Monaten ihren jährlichen Fortschrittsbericht über die Beitrittsverhandlungen mit der türkischen Regierung veröffentlichte, nahm das kaum jemand zur Kenntnis. Jetzt, mit der Reise von Angela Merkel in die Türkei, füllt das Thema plötzlich Zeitungen und Magazine, als sei die deutsche Bundeskanzlerin als EU-Superverhandlungskommissarin an den Bosporus gereist, um eine neue Vision zu entwickeln oder bei den Verhandlungen einen Durchbruch zu erzielen. Dabei gibt es zu diesem Thema im Westen absolut nichts Neues, schon gar nicht in Deutschland, wo dieses Jahr gewählt wird. Nach der neusten Umfrage sind sechzig Prozent der Deutschen gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU.

Merkel hat keineswegs eine neue Vision von einem türkischen EU-Mitglied («bin skeptisch», Verhandlungen sind «ergebnisoffen»), und man muss schon ein besonderer Optimist sein, um in ihrer Bemerkung, sie wolle sich für die Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels einsetzen, eine «neue Dynamik» zu erkennen. Das Angebot, eines der Kapitel abzuschliessen, wäre vielleicht ein neues Signal gewesen. Immerhin sind bisher 13 der 35 Verhandlungskapitel eröffnet, aber nach sieben Jahren Verhandlungen ist erst eines abgeschlossen. Geht es in diesem Tempo weiter, wird über die Mitgliedschaft der Türkei in der EU in etwa 245 Jahren entschieden. Oder vielleicht jetzt schon in 160 Jahren?

Angesichts der Finanzkrise auf Zypern und der Wahlen in Italien ist diesem Thema dann rasch die Luft ausgegangen. Bei allen Defiziten, die dem EU-Anwärter Türkei gerne und vollständig zu Recht vorgebetet werden: Die grösseren Probleme hat die EU selbst. Denn wie soll der EU-Verein über die Aufnahme eines so wuchtigen neuen Mitglieds wie der Türkei verhandeln, wenn nicht einmal klar ist, wie dieser Verein die nächsten fünf Jahre überlebt?

Über die entscheidenden Themen dieses Staatsbesuchs wurde kaum öffentlich gesprochen. Die erfahrene Diplomatin Merkel hatte ihre Reise nicht ohne Grund so choreografiert: Zuerst eine Videobotschaft zum Thema Türkei und EU, danach konnte man nur anerkennend nicken, wie sie den deutschen Soldaten an der Patriotbatterie der Nato in der Türkei ihren Respekt bekundete, das christliche Weltkulturerbe in Anatolien bewunderte und die Wirtschaftsdaten am Bosporus lobte.

Es stimmt, die Wirtschaftszahlen der Türkei sind gut, sogar besser als in vielen EU-Ländern. Die erste Wirtschaftsmacht in der Region ist die Türkei deshalb noch lange nicht. Wenn es wie in Libyen, Ägypten oder jetzt in Syrien darauf ankommt, zeigen schon Saudi-Arabien und Katar den TürkInnen, wer über die grösseren Mittel verfügt. Besonders glänzend ist die Bilanz der türkischen Aussenpolitik bezüglich des Arabischen Frühlings ebenfalls nicht. In Tunesien und Libyen hat sich Ankara zu spät auf die Seite der Aufständischen geschlagen, in Ägypten spielte die Türkei keine Rolle, und in Syrien hat sie sich verspekuliert. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sich das Regime von Baschar al-Assad so lange hält.

Trotzdem geben sich die Mächtigen der Welt in Ankara die Klinke in die Hand. Russlands Staatspräsident Wladimir Putin war erst vor zwei Monaten da. US-Präsident Barack Obama kommt wahrscheinlich im März an den Bosporus, der neue US-Aussenminister John Kerry ist bereits im Anflug. Denn die Türkei ist als einziges Nato-Mitglied Frontstaat in den Krisen- und Kriegsgebieten des Mittleren Ostens. Doch genauso wie die Patriotbatterien der Nato in Anatolien Damaskus signalisieren, dass das Verteidigungsbündnis hinter der Türkei steht, so zeigen sie auch jedem Nato-Mitglied: Wird die Türkei in einen der Konflikte der Region hineingezogen, dann wird es auch die Nato.

John Kerry, der sich in Berlin mit Angela Merkel nach deren Rückkehr aus Ankara traf, warnte vor den «furchtbaren Konsequenzen» eines Scheiterns der Atomgespräche mit dem Iran. Diese Konsequenzen würden nach Teheran zuerst auch Ankara treffen. In den Bürgerkrieg in Syrien ist die Türkei schon allein durch die über 100 000  Flüchtlinge aus dem Nachbarland verstrickt. Welche Konsequenzen der Fall Assads noch haben wird, weiss niemand. Und welche Folgen hätte ein Zerfall des Irak? Alle diese Konflikte bedingen sich zudem gegenseitig. Die GegnerInnen einer EU-Mitgliedschaft der Türkei sagen, Europa wolle keine Aussengrenze zum Brandherd Mittlerer Osten. Tatsächlich hat sie die über die Nato aber schon lange.

Zu besprechen gibt es also genug, aber natürlich dringt über diese Gesprächsthemen nichts nach aussen. Bekannt ist, dass die Front innerhalb der EU gegen eine direkte Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg bröckelt. Deutsche Denkfabriken veröffentlichen gerade Studien über die ethische Bewertung einer «humanitären Intervention». Europa hat allen Grund, alarmiert zu sein – jedoch nicht wegen der Frage, ob oder wann die Türkei Mitglied der EU wird.