Jacqueline Veuve: «Ein kleines Rädchen im Erinnerungswerk»

Nr. 17 –

Die Dokumentarfilmerin Jacqueline Veuve ist mit 83 Jahren verstorben. Frédéric Maire, Leiter der Cinémathèque Suisse, erinnert sich an eine begnadete Zuhörerin und geduldige Beobachterin.

Aufmerksame Beobachterin: Jacqueline Veuve. Foto: Neptune Ravar Ingwersen

Jacqueline Veuve wird es mir verzeihen, dass ich sie vertraulich «Tante Jacqueline» nenne. Für mich gehörte sie immer schon zur Familie – zu meiner Filmfamilie. Sie, die Pionierin des Schweizer Dokumentarfilms, die feministische Aktivistin und Filmemacherin. Und vor allem sie, die immer wieder Neulinge auf ihren ersten Schritten zur Leinwand begleitete. Lionel Baier oder Fernand Melgar, die mit ihr gearbeitet haben, haben ihr viel zu verdanken. Genauso wie ich selber: Als ich erst ein junger Filmemacher war, schleppte sie mich bereits in die Komitees und Kommissionen zur Verteidigung des Schweizer Filmguts mit. Ihren letzten Film «Vibrato», der von der Tradition eines Jugendchors handelt, können wir deshalb als Metapher für Jacqueline Veuves Bedeutung für das Schweizer Kino verstehen: Sie steht für die Kraft der Traditionen und des Gedächtnisses, für soziales Engagement und Politik und für die Bedeutung der Übermittlung.

Das Gedächtnis der Zukunft

Zum Film kam Jacqueline Veuve über Jean Rouch, Richard Leacock und ihr Vorbild Robert Flaherty. Sie wiederholte gerne, ihre Rolle sei es, «ein kleines Rädchen im Erinnerungswerk unseres Landes» zu sein. «Ich liebe es, Dinge und Handlungen, die es morgen wahrscheinlich oder sogar bestimmt nicht mehr geben wird, auf Film darzustellen und festzuhalten», präzisierte sie. Und obwohl ihre Karriere tatsächlich von «filmischen Zeugenaussagen» dieser Art gesäumt ist – von Berufen, die verschwinden, von Traditionen, die ausgelöscht werden –, wäre es zu simpel, Jacqueline Veuve nur als Zeugin zu sehen, als eine, die festhält und wiedergibt. Gerade, weil das im Film eben gar nicht so einfach ist: das Festhalten und Wiedergeben. Und auch, weil sich die ganze Persönlichkeit dieser Cineastin in jedem ihrer Filme zeigt, in den Zwischentönen ihrer Kameraeinstellungen, in der Wahl ihrer Montage und in ihrem Einsatz der Sprache.

Vor allem zwei Talente machen Jacqueline Veuves Arbeiten aus, und sie setzte sie in jedem ihrer Filme ein: ihr Sinn fürs Zuhören und ihre Gabe der Beobachtung – und hier geht es mehr als nur um Ton und Bild. Schon während der Vorbereitung ihrer Filme, bei der Recherche, wenn sie mit Menschen sprach, verstand sie blitzschnell, was die ProtagonistInnen ausmachte, wie ihr Wesen funktionierte. Weil sie zuhören konnte. Mit unglaublichem Geschick brachte sie sie dazu, vor der Kamera nochmals dasselbe zu erzählen – wieder mit einer beeindruckenden Genauigkeit. Ich kenne nicht viele Frauen (und übrigens auch keine Männer), die Soldaten so zum Reden gebracht hätten, wie sie es in «L’homme des casernes» (1994) getan hat.

Aber die Sprache allein reicht nicht, im Film braucht es auch das Bild. Jacqueline Veuve hatte einen ausgeprägten Sinn für Einstellungen, für all das, was man zeigen oder weglassen muss, damit die ZuschauerInnen verstehen. Beispielhaft dafür ist die Filmserie zu den «Holzberufen», den «Métiers du bois» wie die Filme «Claude Lebet, luthier» («Claude Lebet, Geigenbauer», 1988), «Armand Rouiller, fabricant de luges» («Armand Rouiller, Schlittenmacher», 1987) oder «Marcellin Babey, tourneur sur bois» («Marcellin Babey, Drechsler», 1989) oder die «Chronique vigneronne» (1999) über Weinbau und die «Chronique paysanne en Gruyère» (1990), die BäuerInnenchronik. Bei Jacqueline Veuve wird das komplexe Alpkäsen zu einer völlig durchsichtigen Sache. Und besser noch: zu einer fesselnden Geschichte. Ihre meisterhafte Gabe der Beschreibung erlaubt es ihr, weiterzugehen: Sie inszeniert die Realität so sehr, dass Spannung entsteht beim Käsen. Oder beim Schneiden von Schindeln im Wallis.

Das Engagement

Der geistige Vater der Cinémathèque Suisse, Freddy Buache, schrieb über Jacqueline Veuves Arbeit: «Die Kamera hält fest, was sie sieht, das Tonbandgerät zeichnet auf, die Chronik ordnet sich, klar, objektiv und unvoreingenommen. Jedem Zuschauer bleibt es frei, das Eine oder das Andere darin zu lesen.» Trotz dieser scheinbaren Objektivität war Jacqueline Veuve aber keine Filmemacherin, die von ihrer Umgebung nicht berührt wurde. Sie war keine distanzierte Zeugin, die nur beobachtet, ohne Partei zu ergreifen. Sie liebte es, sich mit Themen zu konfrontieren, die alleine durch die Darstellung im Film zum Manifest werden konnten. So drehte sie während eines langen Aufenthalts in den USA am Anfang ihrer Karriere zwei Filme über die Frauenbewegung. Und sogar, wenn sie mit nostalgischem Blick den Markt in Vevey beobachtet (in «Jour de marché», 2002), entdeckt Jacqueline Veuve darin ein Kondensat der Handelsgesetze und enthüllt, wie wenig nachhaltig gewisse Praktiken doch sind.

In ihrem ersten abendfüllenden Film, «La mort du grand-père ou le sommeil du juste» («Der Tod des Grossvaters oder: Der Schlaf des Gerechten», 1978), beschreibt sie das Fabrikleben durch die Augen des Kleinunternehmers. In ihrem vorletzten Film, «C’était hier» (2010), kommt sie bissig auf diese frühere Zeit zurück, die sich doch kaum entwickelt hat. Oder besser: so schlecht entwickelt hat, dass die Patrons und die ArbeiterInnen heute noch gegeneinander kämpfen. Auch ihr einziger richtiger Spielfilm, «Parti sans laisser d’adresse» («Abgereist ohne Adresse», 1982), ist kein harmloser Film: Von einer wahren Begebenheit inspiriert, erzählt sie die Geschichte eines Drogensüchtigen, der sich in Untersuchungshaft das Leben nimmt.

Der Mensch und seine Umgebung

Wenn es etwas gibt, was das Gesamtwerk von Jacqueline Veuve auszeichnet und ein bisschen von ihrer Art zu arbeiten erzählt, dann ist es die enge Beziehung zwischen den Menschen und der Natur. In «Parti sans laisser d’adresse» bricht der Gefangene geistig aus, indem er vom grossen Norden Jack Londons träumt. In einem ihrer letzten Filme, «Un petit coin de paradis» (2008), wird diese Beziehung zur Natur über die Zeit und die Generationen hinweg sogar zum Hauptthema. Der Filmemacherin geht es dabei weder um den Menschen an sich noch um die Natur an sich. Was sie anzieht, ist die Beziehung zwischen den beiden: zwischen dem Schindelmacher und dem Holz, der Gemüsehändlerin und ihrer Ware, dem Patron und seiner Fabrik. Nicht in der Betrachtung, im Tun findet sie die Materie ihres Films.

Jacqueline Veuve sträubte sich auch nicht dagegen, von sich selbst zu erzählen. Besser gesagt: aus ihrer Biografie, aus ihrem Leben den Anfangspunkt einer Geschichte zu setzen. Wie mit ihrem Grossvater und ihrer Familie. Wie mit ihrem Herzen, das sie beinahe im Stich gelassen hatte und sie dazu gebracht hat, «La nébuleuse du cœur» («Ring des Herzens», 2005) zu drehen, eine Reise ins Innere des Herzens, ein Organ, das gleichzeitig auch ein allgegenwärtiges soziales und kulturelles Symbol ist.

Man musste Jacqueline Veuve nur einmal treffen, um zu wissen, dass sie stets auf der Lauer lag, mit scharfem Blick, aufmerksam gegenüber allem, was sie umgab, um eines Tages eine gute Geschichte daraus zu machen. Sie konnte aber auch geduldig auf den richtigen Moment warten, um die Kamera und das Mikrofon auszupacken. Nicht zu früh und nicht zu spät. Wie die Bäuerin, die auf die Reife der Frucht wartet, um sie im richtigen Moment zu pflücken.

Adieu, Jacqueline. Du wirst uns fehlen.