«Child’s Pose»: Korrupte Politik und unendliche Mutterliebe in Rumänien

Nr. 26 –

Eine Abrechnung mit der postkommunistischen Gesellschaft Rumäniens oder die Geschichte einer fatalen Mutter-Kind-Beziehung? Der diesjährige Berlinale-Gewinner «Child’s Pose» des rumänischen Jungregisseurs Calin Peter Netzer kommt jetzt in die Schweizer Kinos.

«Die Hand würde ich mir abhacken für ihn»: Barbu überfährt einen Vierzehnjährigen und muss ins Gefängnis – Mutter Cornelia eilt prompt zu Hilfe.

Nachdem sie sich abgeschminkt hat, zieht Cornelia einen Plastikhandschuh an und cremt ihrem Sohn Barbu den Rücken ein. Die schmatzenden Geräusche bei der Massage sowie die beiden Handkameras, die so dicht an den ProtagonistInnen bleiben, dass die Linse fast beschlägt, weisen hinab in die ödipalen Abgründe einer Mutter-Sohn-Beziehung.

Am nächsten Tag wird Cornelia in der Wohnung ihres Sohns die Schublade mit den Kondomen samt Gleitmittel inspizieren. Barbu fürchtet Keime und Mikroben, das sagt auch seine Freundin Carmen. Er misstraut der Welt, in der er lebt: Beim Alkoholtest nach einem fatalen Autounfall bittet er die Krankenschwester, eine zweite Spritze auszupacken, da er nicht gesehen habe, ob die erste steril verpackt war. Cornelia unterstützt ihren Sohn: Was sei schon dabei, wenn man seiner Bitte nachgebe? Mit einer Kameraführung, die das hektische Hin und Her im Dokumentarfilm simuliert, schleust Kameramann Andrei Butica seine ZuschauerInnen unter die verstörten ProtagonistInnen von Calin Peter Netzers Familiendrama ein.

Wir befinden uns im Bukarest der Gegenwart, im Kreis einer wohlhabenden Familie: Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu) ist Architektin, Vater Relu (Florin Zamfirescu) Chirurg; Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) ist mit seiner Freundin Carmen (Ilinca Goia) ausgezogen, und Nachrichten aus seinem neuen Haushalt kommen nur sporadisch über die gemeinsame Putzfrau. Mutter Cornelia beklagt sich bei ihrer Freundin Olga (Natasa Raab), dass Barbu sie brüskiere und meide. «Ich hatte dir doch geraten, noch ein zweites Kind zu machen», erwidert Olga lapidar.

«Ich bin die Mutter»

Alles ändert sich mit dem Verkehrsunfall, der von Barbu mit seinem teuren Geländewagen verursacht wird: Ein Junge stirbt dabei, und es ist klar, dass Barbu ins Gefängnis muss. Mutter Cornelia ist sofort auf dem Polizeiposten zur Stelle, mobilisiert noch auf dem Hinweg alle hilfreichen Beziehungen und drängt sich, zusammen mit ihrer Freundin Olga, an der weinenden Familie des Opfers vorbei. «Ich bin die Mutter», ruft sie.

In den Anfangswirren der Tragödie wird Cornelias Einmischung noch ironisiert, sie aber macht sich klein in ihrem grossen Pelzmantel und versucht, einen den Umständen angemessenen Platz zu finden, der ihrer mütterlichen Hilfsaktion förderlich ist. Schon am nächsten Tag allerdings nimmt die zuständige Polizistin Cornelias Visitenkarte entgegen und heftet sie wohlwollend zum «Äktlein», damit man wisse, wer in allen Belangen zu informieren sei.

Die Realität vorweggenommen

Cornelia war an der Berlinale «die wohl unsympathischste Figur aller Wettbewerbsfilme», konnte man in der deutschen Presse lesen. Sie verkörpere ein gewissenloses Mitglied der rumänischen Oberschicht, die mit Schmiergeldern und Einfluss alles richten will. Unerwähnt blieb dabei, dass der Film eine wahre, ähnlich groteske Begebenheit vorweggenommen hatte: Im vergangenen Sommer schlug der Sohn der rumänischen Parlamentarierin Sorina Placinta seine Freundin und versuchte, einen zu Hilfe eilenden Mann zu überfahren.

Als ihr Sohn verurteilt werden sollte, intervenierte die Politikerin tränenreich bei allen wichtigen Stellen. Als das nichts half, lief sie zur National-Liberalen Partei über, die damals den Justizminister stellte und die, zusammen mit zwei weiteren durch Überläufer gestärkten Parteien, Präsident Traian Basescu zu entmachten versuchte. Vielleicht war die Mutter Placinta der berüchtigte Schmetterling, dessen Flügelschlag den Sturm auslöste: Basescu blieb zwar im Amt, doch die Regierung wechselte.

Für die rumänische Kritik gehört die Korruption jedoch lediglich zur Kulisse von Netzers Film. Der sei in erster Linie die Studie einer unerbittlichen Mutterliebe, die das Kind entmündigt und lähmt, behandle also ein Thema von globaler Gültigkeit.

Allerdings bleibt ein Teil der lapidaren Dialoge, sobald sie mit Floskeln einer sehr rumänischen, durch ein gewisses Pathos geprägten Eltern-Kind-Kommunikation versetzt sind, kaum übertragbar und recht exotisch: «Die Eltern erfüllen sich durch ihre Kinder», «Die Hand würde ich mir abhacken für ihn», «Ich habe meine schützende Hand von seinem Haupt genommen». In der Übersetzung wird vieles umschrieben oder, wenn sich die Ereignisse überschlagen, stark geglättet und zusammengefasst. Das ist manchmal schade, denn ab und an gibt es in diesem Film einen Satz, der den holprigen Rahmen seiner Formulierung durchbricht und ein Bekenntnis der Hilflosigkeit darstellt: «Was man selber nicht hatte, steckt man in sein Kind.»

Child’s Pose. Regie: Calin Peter Netzer. Rumänien 2013