Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (32): Moral (vor dem Fressen)

Nr. 26 –

Herkunftsbezeichnungen? Ja, gerne. Aber gut schmecken muss ein einigermassen lokalisierbares Produkt noch lange nicht.

«Für mich ist die Milch dann schweizerisch, wenn die Kuh hier lebt und hier Schweizer Gras frisst», sagte Ständerat Thomas Minder am 6. Juni in der «Swissness»-Debatte. Gemäss der letzte Woche von den eidgenössischen Räten verabschiedeten Vorlage gilt ein Steak als schweizerisch, wenn das Rind, das es hergegeben hat, mindestens die Hälfte des Lebens in der Schweiz verbracht hat – auch wenn es sich nicht um ein Simmentaler Fleckvieh gehandelt haben sollte, sondern um ein Jersey- oder ein Angusrind. Und auch wenn das Steak ein T-Bone ist.

Die Frage ist also längst nicht mehr «Wer häts erfunde?», sondern: Kann ich mit möglichst wenig Auflagen ein Schweizer Kreuz hinten auf die Kuh brennen und dadurch zwanzig Prozent Mehrwert schaffen? Bleibt zu hoffen, dass Minders Kuh nicht mit aus dem Ausland zugekauftem Heu durchgebracht werden muss oder sonst wie über den Hag frisst. Und, dies eine Bemerkung am Rande: Schön wäre es, wenn auch ausländische Menschen so tolerant integriert würden wie Rind oder Huhn.

Bei anderen Produkten stellen sich andere Fragen: So kann eine Erdbeere eine Schweizer Erdbeere sein, ohne je mit Schweizer Erde in Berührung gekommen zu sein – etwa, wenn sie im Thurgauer Luftraum auf Substrat (Nährlösung) gediehen ist. Hier ist weniger die Herkunfts- als die Produktbezeichnung überholt; doch braucht es halt Überwindung, zu sagen: «Schatz, magst du noch ein Substratbeeritörtli?»

Beim heiligen Schweizer Produkt Schokolade wiederum droht Unterwanderung durch die Werbung. In Dialektfernsehspots ist bald nur noch das Wort «Schoggolade» zu hören, «feinschti Schwiizer Schoggolade». Hat man zuvor je eineN HiesigeN etwas anderes als «Schoggi» in den Mund nehmen gehört?

Apropos Mund: Auch der hat sich in Dialektspots für Mundpflegeprodukte eingeschlichen, es ist anscheinend nicht mehr fein genug, den Mund «Muul» zu nennen (Aufgepasst bei Trybol, Herr Minder!); «Muul», das erinnert zu sehr an die obige Kuh, das hat bei aller Swissness zu wenig «excellence». Vielleicht würde es ja helfen, wenn bei der nächsten Runde verlangt würde, dass mindestens fünfzig Prozent der Belegschaft der beauftragten Werbeagentur eine Schweizerdeutschprüfung bestanden haben. Dass es dann keine Einkaufstüten mit der Aufschrift «I like Oerlike» mehr gibt, wagen wir zwar nicht zu hoffen.

«Schwiizer Fleisch – wüu us dr Schwiiz»: Natürlich ist das erst mal ein naheliegender, wenn auch nicht brillant formulierter Gedanke. Aber zu meinen, wenn ein Produkt als regional, einheimisch oder schweizerisch bezeichnet wird, schmecke es bereits nach Terroir, ist eine Illusion; die unterstellte Gleichung «hergestellt in der Schweiz» gleich Qualität per se lenkt den Blick zu sehr ab von wichtigen Zutaten: Naturnähe beziehungsweise Umweltverträglichkeit beziehungsweise Umgang mit den Ressourcen und, nicht zuletzt, Arbeitsbedingungen. Der minimale Tierschutzstandard in der Schweiz ist höher als fast überall, aber das reicht noch nicht. Die Tomate aus dem schweizerischen Tunnel ist unter Umständen nur um Nuancen besser als die südspanische; zumindest beruht sie auf der gleichen Idee, nämlich gehauen oder gestochen möglichst saisonunabhängig möglichst günstig produzierte Tomatenattrappen auf den Markt zu werfen.

«Us de Region – für d Region» bedeutet auch nicht automatisch eine saubere CO2-Bilanz, solange nicht klar ist, wie weit das Lebensmittel zwischen Region und Region zwecks Verarbeitung und Verpackung herumgekarrt worden ist.

Das sind vielleicht allzu lokale Überlegungen angesichts der Tatsache, dass ein Grossteil des Inhalts der italienischen Pelatidosen in China gewachsen ist und der Grossteil des «italienischen» Olivenöls aus anderen südeuropäischen Ländern kommt, wo die Olivenbäume in ihrer Monokultur leider die Ehrwürde längst verloren haben. Und stammt nicht auch der Feta vielfach von Schafen, die dänisch blöken? Schmecken kann uns das nicht. Es muss zum Glück auch nicht – in der Schweiz sind wir trotz aller Deklarationsaugenwischerei in unseren Wahl- und Einkaufsmöglichkeiten privilegiert.