Nigeria: Das entfesselte Monster der Politik

Nr. 18 –

Boko Haram schlägt immer brutaler zu. Das hängt auch mit den anstehenden Wahlen zusammen. Denn die Terrorgruppe ist Teil der nigerianischen Politik.

Die Männer kamen in der Nacht, mit Gewehren und Granaten, Lastwagen und einem Bus. Ihr Attentat am frühen 15. April war gut vorbereitet. In der kleinen Ortschaft Chibok stürmten die Angreifer das örtliche Mädcheninternat und trieben die Schülerinnen der Abschlussklassen zusammen.

Seitdem fehlt von 243 Mädchen jede Spur, obwohl Nigerias Militär kurzzeitig behauptete, alle befreit zu haben. «Nicht ein einziges Mädchen wurde vom Militär gerettet», regt sich die Direktorin des Internats Asabe Kwambura auf. Von Lügen spricht sie. «Wir haben die Unterlagen und die Namen der Mädchen schwarz auf weiss.»

Chibok liegt im Bundesstaat Borno, im Nordosten Nigerias, wo die islamistische Terrorgruppe Boko Haram ihre Rückzugsgebiete hat. Niemand hier zweifelt daran, dass sie hinter dem Überfall auf das Mädcheninternat steckt. Boko Haram bedeutet übersetzt «Westliche Bildung ist Sünde», und das Internat von Chibok wäre nicht die erste Schule, die Boko Haram überfallen hätte. Seit einiger Zeit greifen die Terroristen vermehrt auch andere öffentliche Orte an: Am Tag vor der Massenentführung waren auf einem Busbahnhof am Rand der Hauptstadt Abuja zwei Bomben detoniert. Mehr als 75 PendlerInnen starben.

Spott über die Armee

«Präsident Goodluck Jonathan, du bist eine lahme Ente», höhnte Abubakar Shekau danach in einem seltenen Bekennervideo. Shekau gilt als Anführer von Boko Haram. Zwischenzeitlich wurde er schon mal für tot erklärt, angeblich erwischt von Spezialtruppen der Armee. Noch so eine Fehlinformation. «Ich bin hier, mitten in deiner Hauptstadt – fang mich doch, wenn du kannst.»

Mit seinem Spott trifft Abubakar Shekau einen Nerv – selbst bei der riesigen Mehrheit der NigerianerInnen, die ihn und Boko Haram verabscheuen. Überall in Afrikas bevölkerungsreichster Nation fragt man sich, warum es der Armee nicht gelingt, Boko Haram Einhalt zu gebieten. Es ist eine Debatte, die dem seit 2010 regierenden Jonathan gefährlich zu werden droht. Obwohl die Wirtschaft boomt, verliert er aufgrund der Krise im Nordosten massiv an Zustimmung. Im kommenden Februar wird in Nigeria gewählt, und der Wahlkampf hat längst begonnen. Die 243 Mädchen aus Chibok bereiten dem Präsidenten schlaflose Nächte. Nicht wegen dem, was ihnen angetan wird, sondern wegen der miserablen Presse.

Die PR-Strategen holten deshalb zu einem Gegenschlag aus: Jonathan warf dem ehemaligen Militärherrscher Muhammadu Buhari, der 2015 für die grösste Oppositionspartei, den All Progressives Congress (APC), ins Rennen geht, vor, mit Boko Haram verbandelt zu sein. Buhari seinerseits nennt Boko Haram «das Produkt von Jonathans gescheiterter Regierung, sein Baby». Und Expräsident Olusegun Obasanjo schreibt in einem absichtlich gestreuten Brief an Jonathan: «Die Gründe für die Unruhen im Norden werden nicht angegangen und drohen das Land auseinanderzureissen.»

Deals und Gehaltszahlungen

Dass die Politiker sich gegenseitig beschuldigen, hat einen Grund. Boko Haram ist keine streng religiöse Sekte, die nur nach dem Gottesstaat strebt, wie Abubakar Shekau gerne vorspiegelt. Seit ihrer Gründung ist die Bewegung ein Teil des politischen Powerplays, des brutalen Kampfs um die Macht auf allen Ebenen des nigerianischen Staates. «Paten» werden die Strippenzieher genannt, die WählerInnen schmieren und bezahlte Schlägertrupps engagieren, um von ihnen installierte KandidatInnen durchzusetzen. Hier hat auch Boko Haram seinen Ursprung, weiss ein nigerianischer Mitarbeiter der Krisenpräventionsorganisation International Crisis Group. Einen ranghohen Polizisten zitiert er mit dem Satz: «Die Politiker haben die Kontrolle über das Monster verloren, das sie schufen.»

Einer der Schöpfer ist nach allem, was man wissen kann, Ali Modu Sheriff, auch wenn dieser alle Vorwürfe zurückweist. Vor zwölf Jahren wollte Sheriff Gouverneur von Borno werden. In der Bundesstaatshauptstadt Maiduguri schloss Sheriff nach übereinstimmenden Berichten einen Pakt mit Mohammed Yusuf, der eine unter Jugendlichen beliebte islamische Sekte gegründet hatte: Boko Haram. Mohammed Yusuf sollte Ali Modu Sheriff Sheriffs Kampagne in der Moschee und den Armenvierteln unterstützen. Im Gegenzug sollte Sheriff nach seiner Wahl das islamische Recht einführen und Geld aus der Staatskasse an die Bewegung umleiten.

Sheriff, der ohne Unterstützung von Boko Haram chancenlos gewesen wäre, gewann die Wahl. Jahrelang flossen hohe Summen an Boko Haram, bis zu einem blutigen Massaker in Maiduguri im Juli 2009. Danach wollte Sheriff nichts mehr mit Boko Haram zu tun gehabt haben. Stattdessen erklärte er seinen Mittelsmann Buji Foi, den er zum Kommissar für religiöse Angelegenheiten gemacht hatte, zum Alleinschuldigen und schrieb ihn zur Fahndung aus. Die Polizei erschoss Foi auf einer Farm, bevor Aussagen aufgenommen werden konnten. Mohammed Yusuf kam wenige Tage später auf einer Polizeiwache ums Leben. Sheriff regierte danach ungehindert weiter.

Ali Modu Sheriff gehörte der damaligen oppositionellen All Nigeria People’s Party (ANPP) an, die heute in Buharis APC aufgegangen ist. Doch nicht nur von ihr liess sich Boko Haram anheuern. Ali Awana Ngala, damals Vizechef der ANPP, wurde unmittelbar vor den Wahlen 2011 in seinem Haus in Maiduguri erschossen. Ngala hatte in Sheriffs Familie eingeheiratet und galt als designierter Nachfolger des Gouverneurs. Als im November 2011 Boko-Haram-Sprecher Ali Sanda Umar Konduga festgenommen wurde, gab er im Verhör durch den Geheimdienst zu Protokoll, auf der Gehaltsliste von Mohammed Ali Ndume zu stehen – einem aus Borno stammenden Senator der People’s Democratic Party (PDP), der auch Präsident Jonathan angehört.

Boko Haram im Wahlkampf

Kein Wunder, dass es nun vor den nationalen Wahlen in der Gerüchteküche brodelt. Dass Jonathan, Angehöriger einer ethnischen Minderheit aus dem Nigerdelta, erneut als Präsident kandidieren will, sorgt im Norden Nigerias ohnehin für Aufregung. Denn einer inoffiziellen Absprache zufolge wäre eigentlich ein Muslim aus dem Norden an der Reihe. Die dortige Elite fühlt sich um ihre Machtoption betrogen.

Schon gibt es Vorwürfe, Goodluck Jonathan bekämpfe Boko Haram nur halbherzig, um den seit einem Jahr geltenden Ausnahmezustand im Nordosten des Landes weiterhin rechtfertigen zu können. So könnte er allenfalls verhindern, dass in den dortigen Oppositionshochburgen gewählt wird. Andere werfen hingegen der Opposition vor, den Terror anzuheizen, um Jonathans Regierung schlecht dastehen zu lassen.

Nur daran, dass die Interessen der politischen Elite und die von Boko Haram eng verflochten sind, scheint in Nigeria niemand zu zweifeln.

Boko Haram

Boko Haram (ursprünglicher Name: Sunnitische Bruderschaft in Ausführung des Heiligen Kriegs) versteht sich als Teil von al-Kaida. Mehr als 10 000 Menschen sollen ihren Anschlägen zum Opfer gefallen sein. Boko Haram profitiert von Armut und Perspektivlosigkeit im mehrheitlich muslimischen Norden Nigerias.

Es gibt aber längst nicht mehr nur ein einziges Boko Haram. Der Name sei einerseits ein Deckmantel für kriminelle Aktivitäten aller Art, sagt Andrew Stroehlein von der International Crisis Group. «Andererseits kann alles, was irgendwie mit Gewalt zu tun hat, Boko Haram angehängt werden. Die Bewegung ist ein perfektes Alibi für alles.»