Spaniens neue Linke: Die ewig linke Frage: Partei oder Bewegung?

Nr. 28 –

Die spanische Gruppierung Podemos kam bei der EU-Wahl auf Anhieb zu einem beachtlichen Ergebnis. Doch jetzt folgen die Mühen des Alltags. Denn was ist das nun genau, was da entstand?

Ezequiel Arauz hat keinerlei Zweifel. «Podemos ist keine Partei, sondern eine soziale Bewegung. Und als solche ist sie weder rechts noch links, sondern nutzt den gesunden Menschenverstand», sagte der 37-jährige Steuerberater aus der Hafenstadt Cádiz. Und dieser sei in Spanien noch nie rechts gewesen. Doch nicht alle, die sich an einem Sonntagmittag vier Wochen nach der EU-Wahl im Stadttheater der andalusischen Kleinstadt Villamartín trafen, teilten diese Meinung. Etwa vierzig Leute hatten sich eingefunden, zwischen zwanzig und sechzig Jahre alt und aus fast allen Schichten: Landarbeiter waren dabei und Lehrerinnen, ArbeiterInnen und Arbeitslose, Beamte und Hausfrauen. Nein, nein, antworteten manche, für sie sei Podemos nach dem Wahlerfolg – die Gruppierung, deren Name etwa «Wir können es» bedeutet, erzielte bei der Wahl Ende Mai rund acht Prozent der Stimmen – doch wohl eher eine Partei.

Sie alle hatten sich hier versammelt, um mehr zu erfahren und mitzuarbeiten. Und nicht nur in Villamartín schliessen sich Menschen zusammen, die bisher eher am Rand der Politik agierten. In fast jedem Dorf und in vielen Stadtteilen entstehen derzeit sogenannte Círculos Podemos, Zirkel, die allen offenstehen und in denen alle mitsprechen und mitentscheiden können. Es gibt lokale Vereinigungen, themenspezifische Arbeitsgruppen (die sich mit Feminismus, Bildung, Arbeitsmarkt, Ökologie, Wirtschaft, Tierschutz, Gesundheitswesen oder Migration beschäftigen) und Berufsgruppentreffen wie die Arbeitskreise der Streitkräfte oder der PsychoanalytikerInnen.

In Villamartín betreten an diesem Tag viele ein für sie neues Terrain. Sie hören in erster Linie zu und versuchen mehr über Podemos zu erfahren, um dann zu entscheiden, ob sie in ihren jeweiligen Dörfern eine Gruppe bilden wollen. Während die einen Rat suchen («Wie organisiere ich eine Veranstaltung?», «Wer hilft beim Drucken von Plakaten?») sind andere schon weiter. Von denen waren manche jahrelang in der Vereinigten Linken IU aktiv (vgl. «‹Ein konterrevolutionäres Projekt›» im Anschluss an diesen Text) oder sind Mitglieder des andalusischen SAT. Die kämpferische Arbeitergewerkschaft Sindicato Andaluz de Trabajadores erfährt derzeit eine grosse Unterstützung in jenen Gegenden, wo sich viele Lohnabhängige noch immer als TagelöhnerInnen durchschlagen müssen. Ihre Landbesetzungen (siehe WOZ Nr. 22/12 ), Beschlagnahmeaktionen (siehe WOZ Nr. 38/13 ) und Märsche «für die Würde» (siehe WOZ Nr. 13/14 ) haben auch international für Schlagzeilen gesorgt.

Alle für alle

Ist es sinnvoll, dass sich Podemos mit dem SAT verbindet? Wie soll sich die Bewegung weiterentwickeln? Und wofür braucht es Infostände? Nicht, um PassantInnen über Podemos zu informieren, sagten die einen, sondern um herauszufinden, welche Probleme die Mitmenschen haben. «Aber dafür brauchen wir doch keine Infostände», entgegneten die aus den Dörfern, «wir kennen jeden einzelnen unserer Nachbarn.»

Am Schluss einigte man sich darauf, dass alle allen helfen – beim Aufbau eines neuen Arbeitskreises, bei der Organisierung von Veranstaltungen, der Pflege von Facebook-Accounts oder beim Verfassen von Flugblättern. Die Frage, ob Podemos nun eine Partei ist oder nicht, blieb unbeantwortet.

Und sie ist ja auch nicht leicht zu klären. Podemos entstand aus der Empörtenbewegung 15M, benannt nach dem Tag der ersten grossen Proteste, dem 15. Mai 2011. Seit über drei Jahren fordern die Indignados mehr Demokratie. Sie lehnen die von der Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission auferlegte und von der spanischen Regierung umgesetzte Sparpolitik ebenso ab wie die Bankenrettung auf Kosten der BürgerInnen. Sie haben es satt, von korrupten PolitikerInnen regiert zu werden. Und viele derer, die wochenlang Plätze besetzt hatten, an Grosskundgebungen teilnahmen und auf Märschen durch halb Spanien zogen, wollen überhaupt nichts mehr von Politik wissen.

«Kommunist» und Eta-Freund

Trotzdem gründeten Anfang des Jahres ein paar Leute die Plattform Podemos, die die basisdemokratischen Strukturen der mittlerweile aufgelösten 15M-Protestcamps im Internet zu neuem Leben erweckte. Ziel: das politische Establishment aus den Institutionen kegeln und das System grundlegend verändern. Nicht die Finanzmärkte, sondern die Menschen müssten im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen.

Zu Beginn war nur ein Vertreter der neuen Organisation halbwegs bekannt: Pablo Iglesias, ein 35-jähriger Politologiedozent der Universität Complutense in Madrid. Er kommentierte und interviewte für den TV-Sender La Tuerka, der nur im Madrider Arbeiterviertel Vallecas zu empfangen war, wo Iglesias aufwuchs. Dann aber ging La Tuerka (Die Schraubenmutter) online, immer mehr Menschen sahen und hörten den sachlich argumentierenden, ruhigen und beredten Wissenschaftler. Iglesias wurde zu den grossen TV-Talkshows eingeladen, wo ihn rechtskonservative PolitikerInnen und JournalistInnen als Hippie belächelten. Seit er im EU-Parlament sitzt, denunzieren sie ihn als «Kommunisten» und Eta-Freund. Der frühere sozialdemokratische Regierungschef Felipe González warnte gar vor einer «bolivarischen Republik», die jetzt kommen könnte – Iglesias war eine Zeit lang politischer Berater der venezolanischen Regierung.

«Die politische Kaste ist ziemlich nervös geworden», glaubt Jesús Castillo (40), Biologiedozent, SAT-Gewerkschaftsvertreter an der Universität und Podemos-Wortführer in Sevilla. 1,25 Millionen SpanierInnen hätten bei der EU-Wahl gezeigt, dass sie die Nase voll haben: von den Sparmassnahmen, die nur auf dem Rücken der unteren Schicht ausgetragen werden. Von der rechtskonservativen Regierung, von Löhnen und Gehältern, die nicht zum Leben reichen.

Aber wie lange hält so ein Höhenflug an? Empörung allein genügt nicht, es braucht Strukturen. Und die zu schaffen, ist nicht leicht.

Das zeigte sich an einer Versammlung auf der Plaza Perdigones im Stadtzentrum von Sevilla. Er war an einem Donnerstagmittag Ende Juni, einem Feiertag, der ein langes Wochenende einleitete, und trotzdem trafen sich rund 200 Podemos-SympathisantInnen – um Organisationsfragen zu debattieren. Das Treffen verlief etwas weniger chaotisch als in Villamartín. Wer etwas sagen wollte, durfte maximal zwei Minuten reden. Trotzdem meldete sich ein Drittel der Anwesenden im Alter von achtzehn bis siebzig Jahren zu Wort.

Und so wurde drei Stunden lang darüber diskutiert, ob künftig nur noch Mitglieder der verschiedenen Orts-, Themen- oder Berufszirkel über das künftige Vorgehen von Podemos entscheiden dürfen oder ob auch Onlineabstimmungen zugelassen sind; ob Podemos an den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 teilnimmt und wie sich die Bewegung insgesamt organisieren soll; ob sie vor allem entstanden sei, um Wahlen zu gewinnen und die Zirkel vor allem den Zweck hätten, während Wahlkampagnen aktiv zu werden; und was wichtiger sei: die Mobilisierung auf der Strasse oder das Auftreten medienwirksamer Podemos-VertreterInnen? Sind Wahlergebnisse ausschlaggebend oder basisdemokratische Strukturen mitsamt den vielfältigen und vielfach erprobten Protestformen? Es sind diese ewig linken Fragen, die derzeit in Spanien diskutiert werden. Aber nicht in Hinterzimmern und Parteibüros, sondern auf offenen Versammlungen und unter freiem Himmel.

Ohne die Strasse geht es nicht

Jesús Castillo hat seine Meinung längst gefasst. «Wir können ohne die 15M-Bewegung nicht überleben», sagt der Podemos-Sprecher von Sevilla. «Wenn wir uns an Wahlen beteiligen und in den Institutionen sitzen, benötigen wir eine starke Unterstützung von der Strasse.» Andernfalls sei die Gruppierung nicht in der Lage, die postfranquistische Verfassung von 1978 – die unter anderem die Monarchie festschreibt – zu ändern. «Und das ist im Grunde unser Ziel.»

Ihm geht es vor allem darum (und da steht er nicht allein), dass Spaniens ausserparlamentarische Linke ihre Kräfte bündelt und dass sich die Indignados von 15M, die Bergarbeiter von Asturien (siehe WOZ Nr. 25/12 ), die andalusische Basisgewerkschaft SAT, andere linksalternative ArbeiterInnenvereinigungen wie die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT und die Plattform der Hypothekengeschädigten PAH, in der sich Tausende von Zwangsräumung betroffener Familien organisieren, zusammenschliessen. Sie alle unter den Hut einer Partei zu bringen, ist nicht einfach, aber möglich.

Am Ende der dreistündigen Versammlung im Stadtzentrum von Sevilla wird über jeden Vorschlag abgestimmt. Das wichtigste Ergebnis: Die acht Gruppen, die sich inzwischen in Sevilla gebildet haben, werden auch im Juli und August – also mitten in der Ferienzeit – Sitzungen abhalten, auch auf die Gefahr hin, dass nur wenige Leute kommen. Die Zeit drängt: Im Herbst treffen sich Delegierte in Madrid zu einer Hauptversammlung, an der entschieden wird, was Podemos ist, wohin Podemos will und wie sich Podemos schliesslich organisiert.

Linker Konkurrenzkampf : «Ein konterrevolutionäres Projekt»

Die Gründung und der Erfolg von Podemos haben das traditionelle Linksbündnis Izquierda Unida (IU, Vereinigte Linke) überrumpelt. Zwar hat auch die IU, deren grösste und wichtigste Kraft die KP Spaniens ist, bei der Wahl zum EU-Parlament deutlich zugelegt und ihren Stimmenanteil mit knapp zehn Prozent im Vergleich zu 2009 fast verdreifacht. Dennoch freut sich kaum jemand über die neue Konkurrenz von links, zumal Podemos in vielen wichtigen Wahlkreisen die IU überholte und drittstärkste Fraktion wurde. Manche IU-FunktionärInnen nennen Podemos daher auch ein «konterrevolutionäres Projekt», das die Linke spalte. Andere wie Generalsekretär Cayo Lara plädieren hingegen für eine Zusammenarbeit mit Podemos und den sozialen Bewegungen.

«Unser Verhältnis zur Vereinigten Linken ist gut», sagt auf der anderen Seite Podemos-Sprecher Jesús Castillo in Sevilla. Man habe zum Teil dieselben Vorstellungen und kooperiere bei Aktionen wie der Umzinglung des andalusischen Parlaments Ende Juni.

Und doch will niemand von Podemos eine Koalition eingehen, solange die IU in Andalusien mit der sozialdemokratischen PSOE regiert oder – wie in Extremadura – punktuell die rechtskonservative Volkspartei PP unterstützt. Natürlich sei man zu Gesprächen bereit. Die haben bisher offiziell aber noch nicht stattgefunden.

Das Auftauchen von Podemos hat das Linksbündnis in Turbulenzen gestürzt: Vor allem junge Mitglieder fordern jetzt auch mehr interne Demokratie – zum Beispiel bei der Wahl von KandidatInnen. Diese wurden bisher von einer Kommission bestimmt.