Bolivien: Evo Morales hat den Auftrag des Volks gewieft umgesetzt

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Erster Ureinwohner im höchsten Staatsamt und erfolgreichster Präsident in der Geschichte Boliviens: Die Popularität von Evo Morales beruht auf der Verbindung indigener Traditionen mit einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung.

Am 12. Oktober 2014 wird Evo Morales zum dritten Mal in Folge zum Präsidenten von Bolivien gewählt. Nur sein Tod oder etwas ähnlich Unerwartetes könnten seinen Sieg verhindern.

Rechtlich gesehen, mag seine Wiederwahl fragwürdig sein: Die Verfassung verbietet eigentlich drei Amtszeiten hintereinander und erwähnt ausdrücklich, dass mit ihrem Inkrafttreten 2009 keine neue Zählung beginne, sondern vorhergehende Präsidentschaften mitgerechnet würden. Morales wurde Ende 2005 mit 54 Prozent der Stimmen zum ersten Mal Präsident und 2009, nach der neuen Verfassung, mit 64 Prozent wiedergewählt. Jetzt müsste Schluss sein. Doch das Verfassungsgericht entschied 2013: Er darf noch einmal antreten. Kaum jemand in Bolivien stört sich an solchen Tricksereien, und so wird Morales aller Voraussicht nach bis mindestens 2019 regieren. Der erste Indígena im höchsten Staatsamt ist gleichzeitig der bei weitem erfolgreichste Präsident seines Landes.

Danach hatte es am Anfang ganz und gar nicht ausgesehen. Seine erste Amtszeit war geprägt von schlecht vorbereiteten Hopplahoppverstaatlichungen der Öl- und Gasvorkommen und von zum Teil gewalttätig geführten Auseinandersetzungen um die von Morales angestrebte und schliesslich mit ein paar Abstrichen durchgesetzte neue Verfassung. Das Land stand vor dem Auseinanderbrechen: Es drohte die Abspaltung der reicheren Tieflandprovinzen. Die dortigen hellhäutigen OligarchInnen der Agrarindustrie fürchteten, der Präsident wolle ihre Pfründen unter seinesgleichen im indigenen Hochland verteilen, und mobilisierten ihre Schlägertrupps.

Doch davon ist heute nichts mehr zu spüren. Wenn Morales Wind ins Gesicht bläst, so nicht von der damaligen militant rechten Opposition, der er viel zu weit Richtung Sozialismus gesteuert ist. Gegenwehr kommt von seiner eigenen Basis, der er nicht weit genug gegangen ist. Gewerkschaften, Indígenas und soziale Bewegungen hatten ihn an die Macht gebracht, und sie hatten mehr von ihm erwartet als das, was er in nunmehr neun Jahren erreicht hat. Doch schon allein die Tatsache, dass so ein Mann in einer demokratischen Wahl Präsident geworden und ist nicht gleich wieder weggeputscht, sondern nach vier Jahren wiedergewählt wurde, ist für ein Land wie Bolivien ein vorher fast undenkbarer Gewinn.

Bitterarme Herkunft

Evo Morales kam vor 55 Jahren zur Welt, am 26. Oktober, und er weist gerne darauf hin, dass dies der Tag war, an dem Fidel Castro in Havanna zu einer Kundgebung gegen den US-Imperialismus über eine Million KubanerInnen auf die Strasse brachte. Er ist Aymara, geboren in eine bitterarme Familie im Weiler Isallavi im Hochland der Provinz Oruro. Sieben Kinder brachte seine Mutter zur Welt, nur drei überlebten die ersten Jahre. Der Vater war ein kleiner Viehzüchter und sprachgewandt, konnte neben Aymara und Spanisch auch Quechua und ein paar weitere indigene Sprachen. Die Mutter war Analphabetin. Die einzigen spanischen Worte, die sie beherrschte, waren die Gebete der katholischen Liturgie, die sie Tausende Male andächtig in der Kirche murmelte, deren Sinn sie aber nicht verstand. Evo ging zunächst nur fünf Jahre zur Schule und holte die Matura erst viel später nach. Er hütete Lamas und zog in den schlechten Jahren mit seinem Vater nach Argentinien, wo der Alte Zuckerrohr erntete und der Junge Eis auf der Strasse verkaufte. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in einer Ziegelei, in einer Bäckerei und als Trompeter in einer Folkloregruppe. Es gibt sogar zwei Schallplatten mit ihm. Bis er vierzehn Jahre alt war, sagte er einmal, habe er nicht gewusst, was Unterwäsche sei. Einfach, weil er keine besass.

Seine politische Karriere begann, als die Familie nach Missernten und Trockenperioden vom Hochland in die Chapare-Region umsiedelte. Die tropische Gegend war damals nur dünn besiedelt und wurde in den siebziger Jahren zu einem der beiden wichtigsten Anbaugebiete für Koka. Es waren nur wenige BäuerInnen aus dem Hochland, die sich hier niederliessen, vor allem aber ehemalige Minenarbeiter, die bei der Privatisierung von staatlichen Bergbauunternehmen entlassen worden waren. Sie brachten eine kämpferische Gewerkschaftstradition in den Chapare. Morales – ein flinker Fussballer, der einmal von einer Profikarriere geträumt hatte – wurde erst Sportbeauftragter, dann Vorsitzender der Gewerkschaft der KokabäuerInnen. Als solcher spürte er den vom US-Präsidenten Ronald Reagan angezettelten «Krieg gegen die Drogen» und die damit verbundene Repression an der eigenen Haut: Er wurde mehrfach ins Gefängnis geworfen, einmal von Soldaten halb totgeschlagen. Doch schnell wurde er zum Volkshelden des Widerstands.

Wasserkrieg als Initialzündung

Es ist diese Kombination aus der Verwurzelung in indigenen Traditionen und kämpferischer Gewerkschaftsarbeit, die den Erfolg von Evo Morales möglich gemacht hat. Die Aymara und die Quechua – zusammen rund die Hälfte der gut zehn Millionen BolivianerInnen – hatten sich lange nur in Dorfgemeinschaften organisiert und kaum darüber hinausgedacht. Mit der Anfang der siebziger Jahre einsetzenden Landflucht aber kamen sie massenhaft in die Städte und organisierten sich dort in Wohnquartieren. Indígenas wurden zu einem politischen Faktor.

In dem 1997 gegründeten Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus) kamen Arbeiterbewegung und Indígenas zusammen, im Jahr 2000 zeigten sie in Cochabamba zum ersten Mal ihre Macht. Die Wasserversorgung der viertgrössten Stadt Boliviens war privatisiert worden, die Preise hatten sich vervielfacht, die Bevölkerung wehrte sich. Man nennt diese Vorkommnisse heute den «Wasserkrieg von Cochabamba». Nach drei Monaten mit Strassenblockaden, Generalstreik, Kriegsrecht und sieben Toten nahm die Regierung die Privatisierung zurück. Morales, damals schon Parlamentsabgeordneter für den MAS, stand in der Auseinandersetzung an vorderster Front.

Es dauerte noch einmal fünf Jahre, bis sich diese Stärke in einem Wählervotum niederschlug. Ende 2005 wurde Evo Morales gleich im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Das hatte es in Bolivien Jahrzehnte nicht mehr gegeben. Die traditionellen Parteien waren weniger an Programmen orientiert denn an den Interessen von Familienklüngeln der Oligarchie. Keiner ihrer Kandidaten hatte auf Anhieb je die nötigen mehr als fünfzig Prozent der Stimmen geschafft. Und weil das bolivianische Recht vorsieht, dass die folgende Stichwahl nicht vom Volk, sondern vom Parlament entschieden wird, konnten sie dort in Ruhe auskungeln, wie die nächste Regierung aussehen soll. Mit dem Sieg von Morales im ersten Wahlgang begann der Niedergang dieser Hinterzimmerpolitik.

Selbstbewusste Indigene

Einmal im Amt, folgte der neue Präsident dem von seinem Amtskollegen Hugo Chávez in Venezuela vorgegebenen Drehbuch: Das noch immer von der nachkolonialen Oligarchie geprägte Land sollte mit einer neuen Verfassung auf eine demokratischere Basis gestellt werden. Der MAS gewann bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung zwar die Mehrheit, aber nicht zwei Drittel der Stimmen, die nötig gewesen wären, um keine Kompromisse mit der Opposition eingehen zu müssen. So zog sich der Prozess fast zwei Jahre hin. Zeitweise boykottierte die Opposition die Verhandlungen und schickte ihre Schlägertrupps, um das Versammlungslokal abzuriegeln. Dann spielte sie wieder mit und handelte Morales Kompromisse ab. Als dann Ende 2008 die Verfassung bei einem Referendum mit über neunzig Prozent der Stimmen angenommen wurde, war die Opposition vernichtend geschlagen. Sie hat sich bis heute nicht davon erholt.

Seither ist Bolivien ein «plurinationaler Staat», und das hat mehr als nur symbolische Bedeutung. Die Indígenasprachen sind gleichberechtigt mit dem Spanischen, die traditionelle indianische Rechtsprechung wird anerkannt. Echte Chancengleichheit freilich gibt es noch nicht. An den meisten Universitäten wird weiterhin nur in Spanisch unterrichtet, in staatlichen Behörden ist Spanisch Umgangssprache. Wer nur Aymara, Quechua oder Guaraní spricht, benutzt zwar eine offizielle Amtssprache, bleibt aber trotzdem draussen. Aber Bolivien ist auf gutem Weg. Die Indigenen – die knappe Mehrheit der Bevölkerung – haben enorm an Selbstbewusstsein gewonnen.

Die neue Verfassung schreibt auch fest, dass Bodenschätze dem Volk gehören und von der Regierung zugunsten des Volks verwaltet werden müssen. Morales hat diesen Auftrag als gewiefter Gewerkschafter umgesetzt. Er warf die internationalen Öl- und Gaskonzerne nicht einfach aus dem Land, sondern setzte auf Verhandlungen und senkte dabei deren Einnahmen von über 80 Prozent des Erlöses schrittweise auf heute 18 Prozent. Dass die meisten Konzerne trotzdem im Land blieben, weist auf ihre vorher gigantischen Gewinne hin.

Die Mehreinnahmen des Staats von rund einer Milliarde US-Dollar pro Jahr steckt Morales in Sozialprogramme wie Schulspeisungen und eine staatliche Mindestrente für Ältere. Die beträgt zwar nur fünfzig Dollar im Monat, aber das ist immerhin etwas. Die Binnennachfrage wurde durch solche Programme derart gestärkt, dass die bolivianische Wirtschaft seit fünf Jahren stets um über fünf, im vergangenen Jahr sogar um über sechs Prozent gewachsen ist – trotz internationaler Finanzkrise.

Konflikte mit KokabäuerInnen

Die einzige Schwäche von Morales ist seine eigene Partei. Der MAS ist kein homogener Block, sondern wurde als Sammelbewegung unterschiedlichster Gruppen und Interessen gegründet und ist das bis heute. Jede dieser Interessengruppen erwartet von der Regierung, dass ihre Forderungen auch umgesetzt würden.

Morales aber muss das Land zusammenhalten, muss ausbalancieren und in einem global nicht immer einfachen Umfeld regieren. So kämpft er international um die Legalisierung der uralten Kulturpflanze Koka und muss doch zu Hause die Anbauflächen begrenzen, weil ein Gutteil der Ernte in die illegale Kokainproduktion geht. Das schafft Konflikte mit den KokabäuerInnen, deren Gewerkschaftsvorsitzender er bis heute ist. Die in Kooperativen organisierten Minenarbeiter von Potosí wollen weiterhin den Cerro Rico ausbeuten. Morales aber versucht, Teile des Bergs zu sperren, weil der inzwischen so unterhöhlt ist, dass er einzustürzen droht.

Solche Konflikte werden auf die hergebrachte Art ausgetragen: mit Strassenblockaden, bei denen Minenarbeiter gerne auch Dynamitstangen einsetzen. Das sieht dann schnell wie eine Revolte aus. Am Wahltag aber werden auch diejenigen, denen alles nicht schnell genug gehen kann, wissen: Einen Besseren als Morales können sie derzeit nicht haben. In Umfragen liegt sein Vorsprung vor dem Zweitplatzierten bei rund vierzig Prozentpunkten.

Die Statisten der Wahl

Neben Evo Morales wirken die anderen Kandidaten ums Präsidentenamt fast wie Statisten. In den Umfragen liegt der Unternehmer Samuel Doria Medina mit unter zwanzig Prozent auf dem zweiten Platz. Er hat vor allem in den Tieflandprovinzen Beni, Tarija und Santa Cruz AnhängerInnen.

Dem ehemaligen Bürgermeister von La Paz, Juan del Granado von der «Bewegung ohne Angst», dem Christdemokraten Jorge Quiroga, Präsident in den Jahren 2001 und 2002, und dem Grünen Fernando Vargas werden Ergebnisse unter zehn Prozent prognostiziert.