Antibabypille: Die kurze Ära der sexuellen Befreiung

Nr. 42 –

War das eine Monotonschaltung der Frauen oder doch die sexuelle Revolution? Und wieso klaute die DDR die Rezeptur im Westen? Zwei Bücher beschäftigen sich mit der Einführung der Antibabypille in den Sechzigern – einmal in Ost-, einmal in Westdeutschland.

Oral History ist eine junge Methode in den Geschichtswissenschaften und geht unter anderem zurück auf die frühe Frauenforschung der siebziger Jahre. Sie brachte sich gegen die «Haupt- und Staatsaktionen» der offiziellen Historiografie in Stellung und betonte das «Subjektive» der Geschichte. Ihr ist es zu verdanken, dass auch Frauen in den Horizont historischer und sozialwissenschaftlicher Deutung rückten, insbesondere solche, die üblicherweise als «bildungsfern» gelten. Der «weibliche Lebenszusammenhang» wurde damals zum Schlagwort und schloss objektive Lebenslagen und subjektive Lebenserfahrungen ein.

Mittlerweile sind die Protagonistinnen von damals selbst schon zu Zeitzeuginnen geworden, als politische Akteurinnen, vor allem aber auch als Adressatinnen von Strategien, die das «grosse Ganze», die Ökonomie und Demografie ihrer jeweiligen Länder, im Visier hatten und den Umgang mit Sexualität und Familienplanung regulierten. Eines der markantesten Ereignisse im weiblichen Lebenszusammenhang der letzten fünfzig Jahre war dabei die Erfindung, Einführung und Popularisierung der Antibabypille. Das Berliner Pharmaunternehmen Schering brachte sie am 1. Juni 1961 auf den westdeutschen Markt, vier Jahre später folgte die DDR mit einem pharmakologischen Nachbau, der sogenannten Wunschkindpille namens Ovosiston.

Tiefenbohrung in die Geburtenpolitik

Nach drei «Pillengenerationen» scheint die Zeit reif zu sein für eine an den AkteurInnen und Konsumentinnen orientierte Bestandsaufnahme, wobei die beiden nun fast gleichzeitig erschienenen Studien unterschiedliche Ansätze verfolgen. Der Journalistin Katrin Wegner geht es, wie der Titel «Die Pille und ich. Vom Symbol der sexuellen Befreiung zur Lifestyle-Droge» schon vermuten lässt, um die veränderte Bedeutung, die die Pille für die verschiedenen Frauengenerationen hatte und heute hat.

Die unterschiedlichen Generationen angehörenden HistorikerInnen Annette Leo (1948) und Christian König (1980) unternehmen in ihrer Untersuchung «Die ‹Wunschkindpille›» dagegen eine wissenschaftlich-retrospektive Tiefenbohrung in die staatliche Geburtenpolitik in der DDR und stellen ihre Befunde in Relation zu den Erfahrungen, die die Frauen mit der Pille machten. Beide Bücher stützen sich auf Interviews: Wegners Studie geht auf Gespräche mit 267 Frauen und 52 Männern innerhalb von fünf Jahren zurück; Leo, König und ihre MitarbeiterInnen haben im Rahmen eines Forschungsprojekts rund 50 Tiefeninterviews geführt mit betroffenen Frauen, ZeitzeugInnen und ExpertInnen. Die Interviews werden teilweise auch dokumentiert. In beiden Fällen wurden die Frauen in drei Gruppen nach Generationen aufgeteilt, wobei sich die aus dem Westen an Zeitabschnitten bis in die Gegenwart orientieren, die aus dem Osten an DDR-Ereignissen, die mit der Wende enden.

Die Pille, darin sind sich beide Studien einig, hat eine Revolution ausgelöst. Sie war das Symbol der sexuellen Befreiung, weil Sex und Nachkommenschaft durch sie nicht mehr unabdingbar zusammengespannt waren. Gleichzeitig legte sie, und das ist für das neue Geschlechterverhältnis vielleicht noch wesentlicher, die Kontrolle über die Familienplanung einseitig in die Hände der Frauen. Das hatte entlastende Wirkungen, setzte, wie sich zeigen sollte, diese aber auch unter Druck und lieferte sie gesundheitlichen Gefährdungen aus, während sich Männer aus der Verantwortung entlassen sahen.

Dabei war das kleine runde Ding anfangs höchst umstritten. Die DDR-Führung verfolgte in den fünfziger und sechziger Jahren eine pronatale Politik, die sich einerseits in einem Abtreibungsverbot niederschlug, andererseits aber auch die Gleichberechtigung der Geschlechter propagierte. In ihrem sexualpolitischen Konservativismus, der vorehelichen Geschlechtsverkehr verdammte, stand die Sozialistische Einheitspartei (SED) der Konrad-Adenauer-Ära in der Bundesrepublik jedoch nicht nach: Dort hatte ein oberstes Gerichtsurteil 1959 sogar den Kondomautomaten aus der Öffentlichkeit verbannt. Schwanger zu werden, bedeutete in beiden Teilen Deutschlands in der Regel entweder Heirat oder (illegale) Abtreibung. Sexuelle Aufklärung erschöpfte sich lange Zeit in der Mahnung: «Bring mir bloss kein Kind nach Hause!»

Kein Wunder, dass ÄrztInnen in Ost und West die Pille am Anfang nur gegen Menstruationsschmerzen oder unregelmässige Monatsblutungen verschrieben. Im Westen machte dann die Zeitschrift «Stern» publik, dass die Pille auch verhütet. Im Osten wurde zwar an der Pille geforscht, und es gab Vorreiter wie den Sozialhygieniker Karl-Heinz Mehlan, der sich für die «geplante Elternschaft» starkmachte. Doch insgesamt blieb die ÄrztInnenschaft skeptisch. Spannend liest sich bei Leo und König dabei der Ost-West-Spionagekrimi über eine geklaute Pillenrezeptur und einen Arbeiterinnenaufstand im brandenburgischen Wildau gegen das Abtreibungsverbot: «Wir sind Arbeitstiere, aber keine Frauen», werden die Frauen in einem Bericht an das Zentralkomitee der SED zitiert.

Abtreibung noch immer verboten

Als Kontrazeptivum blieb die Pille bis in die siebziger Jahre hinein nur verheirateten Frauen mit mehreren Kindern vorbehalten. Als die westdeutsche Frauenbewegung dann gegen den Paragrafen 218, der die Abtreibung verbietet, mobilmachte, forderte sie auch die Freigabe der Antibabypille. Dass die «Wunschkindpille» für die «Kinder des Aufbaus» in der DDR dann doch allgemein verfügbar wurde, geht darauf zurück, dass dem pharmazeutischen Unternehmen Jenapharm schliesslich mit Ovosiston die Entwicklung beziehungsweise der Nachbau einer «volkseigenen Pille» gelang. Darüber hinaus war der Staat nach dem Mauerbau gehalten, das weibliche Arbeitskräftereservoir zu mobilisieren, und die nach der Einführung der Fristenlösung 1972 staatlich finanzierten Abtreibungen wurden ihm schlicht zu teuer. Die staatliche Familienpolitik und die Interessen der Frauen fielen in diesem Fall zusammen. Dadurch konnte dieser sensible Bereich des DDR-Alltags bis zur Wende befriedet werden.

Im Westen dagegen scheiterten die Frauen an einer entscheidenden Liberalisierung des Paragrafen 218, noch heute ist es in Deutschland verboten abzutreiben, wobei die Frauen in der Regel nicht bestraft werden. Für die in den achtziger und neunziger Jahren heranwachsenden Mädchen war die Antibabypille allerdings eine Selbstverständlichkeit. Sie verstanden sie als «Zeichen der Reife», als Initiation in die Erwachsenenwelt, und sie war mit hohen Erwartungen verbunden. Die Müttergeneration, die die körperlichen und sozialen Nebenwirkungen bereits hinter sich hatte und der Pille, die sie sexuell «allzeit verfügbar» machte, inzwischen kritischer gegenüberstand, begleitete dieses Sich-aus-der-Hand-Geben mit Sorge.

Doch die Unbeschwertheit frei ausgelebter Sexualität endete ohnehin mit dem Auftritt der HIV-Infektion. Die nachkommende «Generation Ego» zeigt, wohl infolge jahrzehntelanger Aufklärungskampagnen, inzwischen ein hohes Verantwortungsgefühl in Bezug auf Verhütung und Schutz vor Aids und Geschlechtskrankheiten. Sie ist aber auch schamhafter geworden und hält – auch in der ehemaligen DDR – nichts mehr von Libertinage und der einstigen Nacktkörperkultur der Eltern.

Männer würden Pille nehmen

Heute nehmen 79 Prozent der vierzehn- bis siebzehnjährigen Mädchen die Pille, die in Deutschland bis zum 20. Lebensjahr kostenfrei auf Rezept zu haben ist. Sehr oft wird sie gar nicht als Verhütungsmittel eingesetzt, sondern «prophylaktisch». Die Designerpille soll schlank, attraktiv und verhaltenskonform machen und der Selbstfindung und -verbesserung dienen.

Interessant ist, dass die Familienplanung in den letzten fünfzig Jahren aber weder durch ein Abtreibungsverbot noch mittels der Pille völlig kanalisiert werden konnte. Ob Frauen Kinder bekommen, hängt anscheinend immer von den Rahmenbedingungen ab. In den sechziger und frühen siebziger Jahren wurden die sozialen Verhältnisse in beiden deutschen Staaten offenbar als so stabil empfunden, dass sie einen «Babyboom» zeitigten. In der Nachwendezeit sank die Geburtenrate im Osten aufgrund der unsicheren Situation dramatisch.

Die Männer, denen in beiden Büchern ebenfalls ein Kapitel gewidmet ist, empfanden die Pille, zumindest vordergründig, als «einen Segen», weil sie sich um Verhütung «keinen Kopp» mehr machen mussten. Allerdings fühlten sie sich auch an den Rand gedrängt, oft verbunden mit der Angst, ein Kind «untergeschoben» zu bekommen. Interessant ist, dass ost- und westdeutsche Männer sich heute durchaus vorstellen können, selbst mittels Pille zu verhüten, wenn es sie gäbe: «Warum nicht?», sagt ein 29-jähriger Maschinenschlosser. Dann «bräuchte ich mir nicht laufend anzuhören, dass sie davon dick wird». Dennoch wird an der «Pille für den Mann» nicht nachdrücklich geforscht.

Ein anderer wichtiger Befund beider Bücher ist, dass die ÄrztInnen, vor allem in der DDR, bei der Akzeptanz der Pille eine wichtige Rolle spielten. Doch schon bald nach ihrer Einführung kursierten Horrormeldungen über Thrombosen, und ihr wurde nachgesagt, sie verursache Krebs. Ausserdem hatten die Frauen von Anfang an mit den heftigen Nebenwirkungen zu kämpfen, die von den ÄrztInnen oft heruntergespielt wurden. Im Westen trug der Skandal um das Schlafmittel Contergan, das bei Föten zu schweren Fehlbildungen führen konnte, das Seine dazu bei, dass viele Frauen die Pille, oft ohne ihre GynäkologInnen zu informieren, absetzten.

Wegner setzt sich ausführlich mit den verschiedenen Pillengenerationen und ihren Nebenwirkungen auseinander. Ihre dezidiert kulturkritische Analyse zielt auf das irreführende Pharmamarketing und seine Versprechungen an die jungen Frauen. Bei der ersten Pillengeneration, schreibt die Autorin, sei der Blick noch nach innen gegangen. Die angeblich verschönernden Wirkungen der Pille lenkten den Blick der jungen Frauen heute auf die reine Oberfläche: «Damit», so Wegner, «verspielen wir langsam das, was uns einst sexuell befreite.»

Die von Leo und König gezeichneten Generationenporträts sind sehr viel differenzierter. Sie leben von der Anschauung, auch wenn sich die Interviewpassagen manchmal etwas mühsam lesen, weil die AutorInnen um der Authentizität willen offenbar auf jegliche Bearbeitung verzichtet haben. Dennoch gelingt ihnen ein ungewöhnliches, eindringliches Sittengemälde, das eine «Terra incognita» des DDR-Alltags enthüllt.

Als «Fluch und Segen» beschreibt eine Gesprächspartnerin in «Die ‹Wunschkindpille›» die Ambivalenz, die der hormonellen Steuerung innewohnt. «Wir schalten die Frauen monoton», beschreibt Gunther Göretzlehner, jener Frauenarzt, der für Jenapharm die Hormonpräparate getestet hatte, mit bemerkenswerter Offenheit die Wirkungsweise der Pille. Und das war es eigentlich nicht, was sich Frauen – und auch Männer – einst von ihr erhofft hatten.

Katrin Wegner: Die Pille und ich. Vom Symbol der sexuellen Befreiung zur Lifestyle-Droge. Verlag C. H. Beck. München 2015. 202 Seiten. 22 Franken

Annette Leo und Christian König: Die «Wunschkindpille». Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR. Wallstein Verlag. Göttingen 2015. 313 Seiten. 26 Franken