Türkei: «Dunkle Kräfte und Verräter»

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Präsident Recep Tayyip Erdogan duldet keine Kritik an seiner Politik und drangsaliert Intellektuelle und JournalistInnen. Europa hält sich zurück, weil es bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise auf Erdogan baut. Von Cigdem Akyol, Istanbul

Blumen und Plakate erinnern an das Drama, das sich hier vor wenigen Tagen ereignete. Auf einem Stück Papier, das zusammen mit einer roten Nelke auf dem Boden niedergelegt wurde, steht auf Türkisch «Wir trauern mit euch» geschrieben. Es war der vierte Terroranschlag innerhalb von sechs Monaten in der Türkei, der den DschihadistInnen des Islamischen Staates (IS) zugerechnet wird. Am 12. Januar sprengte sich nach bisherigem Erkenntnisstand ein syrischer Attentäter in der Nähe der Blauen Moschee und der Hagia Sophia in die Luft und riss zehn deutsche TouristInnen mit in den Tod.

Rote Kreuze an der Tür

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan machte unmittelbar nach dem Anschlag neben dem IS noch einen weiteren Feind aus: die Intellektuellen. Rund 1128 meist türkische AkademikerInnen hatten die Regierung zuvor in einem offenen Brief dazu aufgefordert, die Gewalt im Südosten des Landes zu beenden und den Friedensprozess mit den KurdInnen wieder aufzunehmen. Ein Anliegen, das mit dem IS und dessen Terror nichts zu tun hat. Dennoch kritisierte Erdogan die UnterzeichnerInnen am Anschlagsort – wo er eigentlich der Opfer gedenken wollte – ganze dreissig Minuten lang vehement: «Diese sogenannten Intellektuellen sind keine Erleuchteten, sondern dunkle Kräfte und Verräter», schimpfte er, und er unterstellte ihnen, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu unterstützen. Es bestehe kein Unterschied zwischen denen, die «Kugeln im Namen einer Terrororganisation abschiessen» und denen, die «Propaganda für sie machen».

Wer sich in der Türkei für Frieden einsetzt, lebt derzeit gefährlich: Die Hochschulbehörde YÖK forderte Disziplinarmassnahmen gegen die AkademikerInnen, mehrere wurden bereits vom Dienst suspendiert, 27 wurden wegen «Beleidigung der türkischen Nation» festgenommen. Trotzdem haben die Betroffenen nachgelegt. Am Freitag veröffentlichten sie ein zweites Schreiben mit mittlerweile rund 2000 UnterzeichnerInnen.

«Wir glauben, dass für einige unserer Mitglieder tatsächlich Lebensgefahr besteht», sagte Turgut Yokus von der Lehrergewerkschaft in einem Interview. Er berichtete, dass die Bürotüren einiger Hochschullehrer mit roten Kreuzen markiert worden seien, er erzählte von Bedrohungen und Kündigungen.

Dabei trifft die Forderung der Intellektuellen einen zentralen Punkt. Denn die Lage im Osten der Türkei droht noch weiter zu eskalieren. Auch eine Annäherung zwischen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und der ebenfalls im Parlament vertretenen prokurdischen HDP ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Die HDP hat angekündigt, im Westen der Türkei mit Demonstrationen und Grossveranstaltungen ihre Forderung nach Autonomie für die kurdischen Gebiete im Südosten zu unterstreichen. Vor rund drei Wochen hielt der HDP-Ko-Chef Selahattin Demirtas in Diyarbakir eine Rede, in der er die bisher meist von radikalen KurdInnen geforderte Autonomie unterstützte. Damit näherte er sich den Forderungen der PKK an. Erdogan hat anschliessend laut Medienberichten die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir damit beauftragt, Ermittlungen gegen Demirtas aufzunehmen. «Diese Forderung verstösst gegen die Verfassung», sagte Erdogan. Auch gegen die zweite HDP-Ko-Chefin, Figen Yüksekdag, laufen Ermittlungen – beide sollen ihre parlamentarische Immunität verlieren.

Der Konflikt der Regierung mit der PKK war nach den Parlamentswahlen im Juni wieder eskaliert, der vor drei Jahren eingeleitete Friedensprozess wurde eingefroren. Im Dezember hatte die Armee eine Grossoffensive in der Region begonnen. Mittlerweile herrschen in Teilen der Südosttürkei bürgerkriegsähnliche Zustände, ganze Viertel in Cizre, Diyarbakir oder Silop werden von der Armee belagert (siehe WOZ Nr. 1/2016 ). Die prokurdische Menschenrechtsorganisation IHD gibt an, dass bereits über 200 000 BewohnerInnen aus den umkämpften Gebieten geflohen seien. Nach Angaben der HDP wurden alleine in der Provinz Sirnak seit Mitte Dezember 82 ZivilistInnen getötet.

Belagerte Stadtviertel

«Noch nie in der jüngeren Geschichte stand das Land so unmittelbar vor einem Bürgerkrieg», sagt der britische Türkeiexperte Gareth Jenkins, der in Istanbul lebt. Erdogans jetzige Rhetorik gegenüber den KurdInnen erinnere ihn an die neunziger Jahre, als über den Südosten der Ausnahmezustand verhängt worden war. Jenkins kritisiert auch die HDP: «Mit ihrer Annäherung an die PKK wird der türkische Nationalismus zusätzlich angeheizt.» Bei dieser sich anbahnenden Eskalation sei das Schweigen der europäischen Regierungen bedrückend, so Jenkins. «Europa hat viel Geld bezahlt, damit die Flüchtlinge in der Türkei behalten werden», sagt Jenkins. «Deswegen wollen die Europäer Erdogan jetzt nicht verärgern.»