Dokumentarfilme: Bloss nicht so werden wie die Eltern!

Nr. 15 –

Rückzug ins Private? Vater und Mutter sind das neue Lieblingsthema im Schweizer Dokumentarfilm. Neue Exemplare gibts jetzt an den Visions du Réel in Nyon und demnächst im Kino.

Gespenstische Puppenstube: In «Looking Like My Mother» setzt Dominique Margot viele formale Mittel bis hin zu surrealen Szenen ein.

Die Kamera kann eine Waffe sein, aber auch ein Inkubator der Liebe. Und manchmal ist sie beides zugleich, zum Beispiel, wenn es um die eigenen Eltern geht. Besonders schön war das in «Karma Shadub» (2013) zu sehen, Ramón Gigers schmerzhaft persönlicher Annäherung an seinen Vater, den Musiker Paul Giger. Mit der Kamera wollte sich der Sohn der väterlichen Liebe versichern, die er nie gespürt hatte – und benutzte den Vater dabei als Strohmann für seine eigene künstlerische Selbstermächtigung.

Die Auseinandersetzung mit den Eltern ist, nicht erst seit Peter Liechtis «Vaters Garten», das neue Lieblingsthema des Schweizer Dokumentarfilms. Man muss in diesem Rückzug ins Private nicht gleich ein Abgleiten ins Biedermeier wittern, dazu sind die betreffenden Filme zu vielfältig. Da waren die beiden Brüder, die sich mit Sarkasmus als Schutzmaske durch das private Gerümpel ihrer verstorbenen Mutter pflügen («Sieben Mulden und eine Leiche»). Da war das Hippiekind auf seinem Selbstfindungstrip mit Daddy («Beyond this Place»). Oder eben der Musikersohn, der die Empfindsamkeit einfordert, die sein Vater lieber in der Kunst auslebt («Karma Shadub»). Gemeinsam ist allen diesen Geschichten nur etwas: Es sind lauter Filme von Söhnen.

Die Mutter als Geisterkönigin

Jetzt legen zwei Töchter nach. Ihre Hauptfiguren: ein Vater, der zeitlebens hinter der Filmkamera verschwindet, und eine Mutter, die zwar anwesend ist, aber nicht wirklich da. «Looking Like My Mother» heisst der Essayfilm von Dominique Margot, der jetzt im Wettbewerb der Visions du Réel in Nyon läuft. Es ist der nachträgliche Versuch, die verstorbene Mutter zu begreifen – diese Frau, die der Regisseurin in ihrer Kindheit oft als unfassbare Geisterkönigin erschienen war, wie sie monatelang im abgedunkelten Schlafzimmer lag, unter der bleiernen Decke ihrer Depression.

Dominique Margot («Toumast») setzt dafür alle formalen Hebel in Bewegung: von Interviews über Spielszenen und diskret animierte Familienfotos bis hin zu surrealen Momenten, wo sich zwischen Erinnerung, Fantasie und Gegenwart die Bilder zu verselbstständigen scheinen. Da regnet es Laub im Schlafzimmer, eine gespenstische Puppenstube wird gesprengt. Einmal streift die Kamera durch feuchte Schächte, als wärs ein fiebriges, hyperrealistisches Computerspiel – aber in einer Depression gibts keinen Gegner, den man einfach aus dem Weg räumen könnte, und dann ist gut.

Das funktioniert längst nicht überall gleichermassen, die gespielten Szenen etwa wirken wie Schultheater, gefilmt durch einen Edelfilter. Aber so, wie dieser Film beständig die Grenzen verwischt, spiegelt seine Form stets auch die Angst, die die Regisseurin antreibt: «Ich wusste nicht mehr, wo meine Mutter aufhört und ich anfange. Alles vermischte sich: sie, ich, die Depression.» Die Kamera ist hier nicht bloss ein forensisches Werkzeug, um die Spuren der Familie zu sichern. Sie dient vor allem auch der Selbstversicherung: Die Regisseurin will sich so vergewissern, dass sie anders ist als ihre Mutter. Nicht im Sinn einer Auflehnung, die hat sie längst vollzogen, als Punk in der Zürcher Bewegung und dann als Stuntfrau in einem Wanderzirkus. Sondern um die Angst zu bannen, dass sie von der Mutter, der sie so ähnlich sieht, auch eine depressive Veranlagung geerbt haben könnte.

Der Vater als Paparazzo

Auch Eva Vitija will mit ihrem Film «Das Leben drehen» ein Rätsel lösen. Es ist das Erbe, das ihr Vater Joschy Scheidegger hinterlassen hat und das sie einmal säuberlich auf dem Zimmerboden ausbreitet: sein uferloses Archiv mit Familienfilmen in allen möglichen Formaten von analog bis digital. Dieser Vater war abwesend, weil er penetrant anwesend war: immer die Kamera im Anschlag, Familienleben nur durchs Objektiv. Der Papa als Paparazzo der Kindheit.

Wozu diese dauernde, fast pathologische Filmerei? War das bloss die Berufskrankheit eines Mannes, der seinen Job als umtriebiger TV-Regisseur auch im Familienalltag nicht ablegen konnte? Die Antwort, die die Tochter im Archiv und in Gesprächen findet, ist zur Hälfte so trivial, wie das auch im Untertitel steht: Vater Scheidegger filmte, weil er das Glück festhalten wollte. Aufregend ist aber die andere Hälfte, die den ersten Teil des Films prägt. Da erinnert sich die Regisseurin erst vage an eine erste Familie des Vaters, die dieser bis zur Unsichtbarkeit verdrängt hatte – und sucht schliesslich einen Halbbruder aus diesem anderen Leben auf. Jedes Bild, das der Vater von seiner neuen Familie machte, überdeckte also immer auch ein Stück vom Unglück seiner ersten.

Bloss nicht so werden wie der Vater: Das gelingt Eva Vitija, gerade weil sie als Filmemacherin das Gleiche macht wie er. Das Gleiche, aber ganz anders. «Das Leben drehen», an den Solothurner Filmtagen mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet, ist die Geschichte einer Aneignung: Die Regisseurin macht sich Vaters Bilder zu eigen – immer im Bewusstsein, dass sie sich, indem sie das Archiv des Vaters verdichtet und weitergeschrieben hat, vielleicht auch zu seiner Erfüllungsgehilfin gemacht hat.

Ein mütterliches Pendant zu diesem Vater ist übrigens in Nyon zu sehen. Es ist die norwegische Regisseurin Aslaug Holm mit ihrem Film «Brothers», die dafür ihre zwei Söhne acht Jahre lang mit der Kamera begleitet hat – die eigenen Kinder als künstlerisches Langzeitprojekt. Wer weiss, wenn die Buben mal gross sind, werden sie den Spiess vielleicht umdrehen. Aus Rache oder aus Liebe oder beides zugleich.

«Looking Like My Mother» läuft am 16./17. April 2016 an den Visions du Réel in Nyon. Das Dokumentarfilmfestival dauert vom 15. bis 23. April 2016, ausführliches Programm siehe www.visionsdureel.ch.

«Das Leben drehen» kommt am 5. Mai 2016 ins Kino. «Sieben Mulden und eine Leiche» läuft Do–Mi jeweils um 17 Uhr im Kino Xenix in Zürich.

Zu «Sieben Mulden und eine Leiche» siehe auch Monatsinterview mit Thomas Haemmerli in der WOZ von 2007.

Looking Like My Mother. Regie und Drehbuch: Dominique Margot. Schweiz 2016

Das Leben drehen. Regie und Drehbuch: Eva Vitija. Schweiz 2015