NSU-Prozess: Aufklärung mit fest angezogener Handbremse

Nr. 23 –

Seit drei Jahren läuft in München das Verfahren um den Nationalsozialistischen Untergrund. Die Zwischenbilanz einer Nebenklagevertreterin fällt ernüchternd aus.

«Die Erwartungen unserer Mandanten sind bisher ganz klar nicht erfüllt worden», sagt die Berliner Rechtsanwältin Antonia von der Behrens, die mit KollegInnen die Angehörigen von Mehmet Kubasik vertritt. Der Dortmunder Kioskbetreiber war am 4. April 2006 ermordet worden. Er war das vorletzte Opfer in der rassistischen Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Kubasiks Familie gehe es nicht nur um die Verurteilung der Angeklagten, sie wolle vor allem Aufklärung, so von der Behrens. «Die Angehörigen möchten wissen, wie und warum ausgerechnet Mehmet Kubasik als Opfer ausgesucht wurde und ob die Sicherheitsbehörden den Mord hätten verhindern können.»

Zwischen September 2000 und April 2006 hatte der NSU in verschiedenen deutschen Städten neun Kleinunternehmer regelrecht hingerichtet – acht von ihnen türkischer, einer griechischer Herkunft. Auch zwei Bombenanschläge in Köln 2001 und 2004, der Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2006, der Mordversuch an ihrem Kollegen sowie fünfzehn Banküberfälle gehen auf das Konto der Gruppe. Bekennerbriefe gab es keine. Jahrelang tappte die Polizei im Dunkeln, mutmasste, dass sich die Opfer mit einer kriminellen Organisation eingelassen, die Angehörigen eine «Mauer des Schweigens» errichtet hätten.

Von dem Verfahren hätten sich die Familien der Mordopfer deshalb auch eine Rehabilitation erwartet, sagt von der Behrens. Die sei bisher jedoch ausgeblieben. «Alle Polizisten, die im Prozess als Zeugen auftreten, rechtfertigen mit kleinen Unterschieden in Tonlage und Vehemenz ihre Vorgehensweise von damals», konstatiert die Anwältin. «Niemand sagt: ‹Stimmt, wir haben Fehler gemacht, in die falsche Richtung geschaut, sämtliche Hinweise auf ein rassistisches Motiv übersehen. Wir haben die Opfer verdächtigt und die Familien bezichtigt, in einer Parallelgesellschaft zu leben.›»

Wie einsam waren Zschäpe und Co.?

Auch sonst verlief das Verfahren für die Angehörigen bisher enttäuschend. Für die Bundesanwaltschaft, die in München die Anklage vertritt, bestand der NSU nämlich nur aus dem abgekapselt und allein handelnden Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die 1998 untergetaucht waren. Mundlos und Böhnhardt sind tot. Am 4. November soll Mundlos zuerst Böhnhardt und dann sich selbst erschossen haben, als die Polizei ihnen nach dem letzten Banküberfall auf die Spur gekommen war. Zschäpe, die Hauptangeklagte im Münchner Verfahren, steckte am gleichen Tag die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand und stellte sich später der Polizei. Die vier Mitangeklagten sollen das Trio eher am Rand unterstützt haben.

Die offizielle Version vom einsamen Terrortrio ist für die NebenklägerInnen nicht glaubwürdig: Das Kerntrio sei nicht nur von Neonazis aus dem Umfeld von Blood and Honour in Sachsen unterstützt worden (wo Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe nach dem Untertauchen lebten) auch bei der Auswahl der Opfer liege es nahe, dass die mutmasslichen Täter die Hilfe «Ortskundiger» gehabt hätten. Im Fall Mehmet Kubasik sei das offensichtlich, sagt von der Behrens.

Die Neonaziszene sei in Dortmund traditionell stark, 2005 habe sich dort eine Combat-18-Zelle etabliert. «Combat 18 ist der bewaffnete Arm von Blood and Honour und hat eine ähnliche ideologische Haltung wie der NSU.» Ein ehemaliger Informant des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes habe der Polizei kurz nach dem Auffliegen des NSU von dieser Zelle berichtet. Er sei jedoch nur «befragt» worden, kritisiert die Rechtsanwältin, eine offizielle Vernehmung oder gar weitere Ermittlungen habe es nicht gegeben.

Den Vermerk zur Befragung habe die Bundesanwaltschaft regelrecht vor den NebenklägerInnen versteckt. «Er war nur in einem ganz frühen Aktenbestand zu finden – in den Akten, die dem Gericht nachher vorgelegt wurden, fehlt er.» Und auch der Strafsenat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl habe nicht klären wollen, ob es Verbindungen zwischen der Combat-18-Zelle und dem NSU gab. Das Gericht lehnte die Beweisanträge der Nebenklage ab, die Angelegenheit sei «für die Tat- und Schuldfrage nicht relevant».

Wie viel Staat steckt im NSU?

Aber auch in einem anderen zentralen Punkt zeigen sich Bundesanwaltschaft und Gericht nicht sonderlich interessiert. Das Trio war geradezu umringt von V-Leuten des Verfassungsschutzes, die meistens nicht nur ihren staatlichen Auftraggebern dienten, sondern weiterhin auch ihren neonazistischen Organisationen treu blieben: «Die Zahlen variieren zwischen circa zehn und vierzig, je nachdem, wie weit man die Kreise zieht», sagt von der Behrens. Seit dem Auffliegen des NSU im November 2011 ist die Rolle der V-Leute eines der grossen Themen in der öffentlichen Debatte, aber auch in den Untersuchungsausschüssen des Bundestags und der Landesparlamente.

Die Bundesanwaltschaft habe versucht, dieses Thema so weit als möglich aus dem Verfahren herauszuhalten, sagt Antonia von der Behrens. «Die Bundesanwaltschaft arbeitet recht eng mit den Nachrichtendiensten zusammen. Und die möchten nicht, dass ihre Strukturen und Arbeitsweisen öffentlich in einem Gerichtsverfahren behandelt werden.» Dabei ist das Thema nicht nur politisch, sondern auch für das Verfahren bedeutsam. Die Frage lautet nämlich, was der Verfassungsschutz durch seine Spitzel vom Aufenthaltsort und den Aktivitäten der drei Untergetauchten wusste und ob dieses Wissen hätte dazu genutzt werden können, die Morde und Anschläge des NSU zu verhindern.

Laut von der Behrens hätten verschiedene Landesämter des Inlandsgeheimdienstes schon 1998 und 1999, in den ersten beiden Jahren nach dem Untertauchen des NSU-Kerntrios, durch ihre Spitzel konkrete Informationen gehabt, dass sich Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in Chemnitz aufhielten und von der örtlichen rechtsextremen Szene mit Geld und Waffen versorgt wurden. Es habe damals auch Möglichkeiten der Festnahme gegeben. Diese Hinweise seien wegen mangelnder Koordination und Kooperation jedoch untergegangen, lauten seit November 2011 die offiziellen Entschuldigungen aus den «Sicherheitsbehörden» und den für sie zuständigen Innenministerien.

Und der Verfassungsschutz?

Anfang April berichteten die deutschen Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs in einer ARD-Dokumentation, dass der NSU-Mann Uwe Mundlos in den Jahren 2000 und 2001 für die Baufirma des Zwickauer Neonazis Ralf Marschner gearbeitet habe. Marschner war von 1992 bis 2002 unter dem Decknamen «Primus» V-Mann des Verfassungsschutzes und lebt heute in der Schweiz. Akten, die Auskunft geben könnten, was er seinem V-Mann-Führer, also seinem Ansprechpartner beim deutschen Inlandsgeheimdienst, über den NSU berichtet hat, sind offiziell 2010 vernichtet worden – zwei Jahre vor Ablauf der offiziellen Frist.

Nach der Ausstrahlung des Films haben die VertreterInnen der Nebenklage beantragt, Marschner und seinen V-Mann-Führer als Zeugen vor Gericht zu laden. Ob Beate Zschäpe oder Uwe Mundlos in der fraglichen Baufirma gearbeitet hätten, sei «für die Tat- und Schuldfrage nicht relevant», liess das Gericht verlauten – und lehnte den Antrag ab.

Ein ausführliches Interview mit Antonia von der Behrens erscheint demnächst in «Bürgerrechte & Polizei», Nr. 110 (www.cilip.de).