Kommentar zum abgelehnten Friedensvertrag in Kolumbien: Die hauchdünne Mehrheit für den Tod

Nr. 40 –

Nach der Ablehnung des Friedensvertrags durch die WählerInnen steht Kolumbien vor einem langen Streit auf unsicherem Boden.

Irgendwie fühlt man sich an das Brexit-Votum erinnert. Niemand hatte mit diesem Ausgang gerechnet, nicht einmal diejenigen, die dafür Stimmung gemacht hatten. Und doch ist es passiert: 50,2 Prozent derjenigen, die an der Abstimmung vom vergangenen Sonntag teilgenommen haben (rund 37 Prozent der Stimmberechtigten), lehnten den Friedensvertrag ab, den die Regierung und die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) eine Woche zuvor unterschrieben hatten. Und wie in Britannien hat niemand einen Plan, was nun zu tun ist. Das ist gefährlich – denn in Kolumbien geht es um Krieg oder Frieden, um Leben oder Tod. Warum nur entschied sich eine hauchdünne Mehrheit für den Tod?

Die Menschen in den grossen Städten – dort hat das Nein zum Friedensvertrag gewonnen – haben längst verdrängt und vergessen, was Krieg bedeutet. Seit einem Jahrzehnt ist dort kaum mehr etwas davon zu spüren, seit über einem Jahrzehnt läuft eine beispiellose Propagandamaschine: Fünf Milliarden US-Dollar haben die USA in einen Feldzug investiert, bei dem es angeblich nicht um Aufstandsbekämpfung, sondern um einen «Krieg gegen die Drogen» ging. Der ehemalige extrem rechte Präsident Álvaro Uribe (2002 bis 2010) nennt die Guerilla bis heute nur «Mörder und Drogenhändler», «narcoterroristas», und mit Terroristen verhandelt man nicht. Dieses Etikett haftet den Farc an, nicht nur in Kolumbien, sondern weit darüber hinaus und bis hinein in Teile der Linken.

Sicher: Die Farc haben von Kokabauern und Drogenhändlerinnen Kriegssteuern eingetrieben. Sie haben massenhaft Menschen entführt. Sie haben zwangsrekrutiert, auch Kinder. Sie haben Massaker an der Zivilbevölkerung begangen, Deserteurinnen aus den eigenen Reihen und mutmassliche Kollaborateure der Gegenseite erschossen. Und man wusste schon lange nicht mehr, ob es ihnen nur noch ums Durchhalten ging oder ob sie noch ein politisches Ziel hatten.

Man darf sich nichts vormachen: So gut wie alle lateinamerikanischen Guerillas haben sich mit Kriegssteuern und Entführungen finanziert. Fast alle haben zwangsrekrutiert und hatten Kindersoldaten und Kriegsverbrecher in ihren Reihen. Wer Frieden schloss, tat es aus Erschöpfung. Und doch sind diese Guerillas immer auch als politische Kraft wahrgenommen worden. Bei den Farc aber ist es Uribe und den USA gelungen, sie für die Mehrheit ganz in die kriminelle Ecke zu drängen.

Die Bemühungen des unbeliebten Präsidenten Juan Manuel Santos, die internationale Unterstützung für den Friedensprozess und ein paar erwartbare öffentliche Entschuldigungen der Guerilla reichten nicht aus, um die Farc aus dieser Ecke herauszuführen und sie zu einem allgemein anerkannten politischen Akteur zu machen. Nur in den ländlichen Regionen, in denen die Menschen bis heute unter dem Bürgerkrieg leiden und die Farc wirklich kennen, siegte das Ja zum Friedensvertrag mit zwischen 60 und 80 Prozent. Es war zu wenig.

Nun ist die Lage verzwickt. Es gibt einen unterzeichneten Friedensvertrag, zu dem beide Seiten stehen, nur kann er nach diesem Referendum nicht umgesetzt werden. Sowohl die Farc als auch Santos hatten vorher behauptet, es gebe keinen Plan B, und nachverhandelt werde nicht. Trotzdem hat der Präsident gleich am Montag eine Verhandlungsdelegation nach Havanna geschickt, von wo aus die Farc-Führung nach dem Referendum eigentlich nach Kolumbien zurückkehren wollte. Zu Hause hat Santos alle Parteien zu einem nationalen Dialog gebeten. Alle sind gekommen – ausser Uribe und seine Partei des Demokratischen Zentrums.

Der ehemalige Präsident fühlt sich als Sieger vom Sonntag. Wenn schon ein Friedensvertrag, dann will er die Bedingungen diktieren. Wie diese heissen, ist längst bekannt: ins Gefängnis mit den «Mördern und Drogenhändlern». Das aber werden die Farc nie akzeptieren, und so steht Kolumbien vor einem sehr langen Streit auf sehr unsicherem Boden. Die Guerilla wird sich – vorerst zumindest – nicht von der schon bereitstehenden Uno-Mission entwaffnen lassen. Immerhin hat Präsident Santos den Waffenstillstand bis mindestens 31. Oktober verlängert. Farc-Chef Rodrigo Londoño erklärte, seine Organisation wolle nur noch mit Worten und nicht mehr mit Waffen kämpfen.

«Wir sind ein Land, in dem alles provisorisch ist, für den Moment, bis auf weiteres», schrieb der kolumbianische Literat Héctor Abad Faciolince nach der Abstimmung. So herrscht nun kein Frieden, aber der Krieg ist vorbei. Provisorisch, für den Moment, bis auf weiteres.