Soundtrack des Lebens: Musik im Cyberspace

Nr. 42 –

Durch die Digitalisierung der Musik haben wir ständig und überall Zugriff auf fast alles, was jemals aufgenommen wurde. Wenn wir uns von den Konzernen emanzipieren wollen, die daraus ein Geschäft machen, müssen wir eigene Netze aufbauen.

Das gleichnamige Album des afrokubanischen Jazzduos Patato & Totico aus dem Jahr 1967 höre man am besten, wenn man «nachts mit Kopfhörern durch die dichten Menschenmengen am Times Square geht, während der Geruch von Imbissbuden in der Luft liegt und man die visuellen Sinneseindrücke verarbeitet». Denn die Musik, die erklingt, werde sich mit der Umgebung verweben: «Nichts geschieht in perfekter Übereinstimmung oder bewegt sich entlang einer geraden Linie.» Vielmehr spannt sich um die Wirklichkeit ein Netz von «flackernden, dicht gedrängten Partikeln».

Diese detaillierten Beschreibungen von Sinneseindrücken und Wahrnehmungsverschiebungen könnten direkt aus William Gibsons Science-Fiction-Roman «Neuromancer» (1984) stammen. Sie sind aber in Ben Ratliffs kürzlich erschienenem Buch «Every Song Ever» zu finden: Der US-Musikkritiker schlägt darin vor, sich angesichts der Überforderung durch überall und jederzeit abrufbare Musikarchive von tradierten Genrekategorien wie Drone Metal, World Music oder Cloud-Rap zu verabschieden. Stattdessen sollen die HörerInnen radikal eigene, für sie sinnstiftende Parameter zwischen teilweise sehr unterschiedlichen Musikstilen und ihren geografischen und sozialen Herkünften setzen. Als Beispiele nennt er Repetition, Geschwindigkeit und Virtuosität oder Stille und Traurigkeit.

Aussenwelt wird zur Bildkulisse

Ratliffs Buch ist direkt für das Jahr 2016 geschrieben: Noch nie stand HörerInnen so viel Musik zur Verfügung, bereits die Wahl zwischen verschiedenen Streamingplattformen grenzt an Überforderung: Spotify, Tidal oder Apple Music? Youtube, Soundcloud oder Bandcamp? Dazu eine Fülle von Podcasts, Onlinemagazinen und anderen sich ständig aktualisierenden Instant-Access-Quellen. Ratliffs Vorschlag trifft den Nerv der Zeit: Mithilfe musikalischer und algorithmischer Parameter und immer besser entwickelter Kopfhörer können alle ihre persönliche, nach innen gewandte Soundwelt zusammenstellen. Diese Welt dreht sich vor allem um das eigene Ich, die Aussenwelt wird – wo immer erlaubt und möglich – akustisch abgekapselt. Sie dient höchstens noch als Bildkulisse zum Song, der gerade läuft.

Wenn jeder unserer Schritte von Musik begleitet wird, werden Zeit und Raum gedehnt und verkürzt, als veränderbar empfunden, als Trip durch das digitale Jetzt. Das Musikerleben fügt sich damit zunehmend ein in den Bewusstseinszustand der Gegenwart. Fritz Ostermayer zieht in der Radiosendung «Im Sumpf», seinem «Labor zur Sondierung der Gegenwart» auf dem österreichischen Sender FM4, eine Parallele zwischen dem Turbokapitalismus und dem rasend schnellen Blastbeat des Black Metal: Erstarrt die «Hochgeschwindigkeits-Kakophonie» zu einem psychoakustischen Flimmern, so führt die unwürdige «Beschleunigungslogik des Neoliberalismus» unweigerlich in den Stillstand, «hinein in die klinische Depression».

Ständig neue Songversionen

Musiker, Produzentinnen und Labels tun indes einiges dafür, nicht gleich wieder von den rasant schnellen News- und Veröffentlichungsfeeds der sozialen Netzwerke zu verschwinden, wenn sie dort einmal angekommen sind. So gut wie Kanye West macht das kaum jemand: Seit der Veröffentlichung seines diesjährigen Albums «The Life of Pablo» sind davon mehrmals überarbeitete Versionen auf verschiedenen Streamingdiensten veröffentlicht worden. Er selbst reichte die Analyse dazu gleich selber nach: Das Album sei ein «organisches, in ständiger Veränderung befindliches Gebilde» – und bleibt im Gespräch.

Doch was passiert, wenn ein bestimmter Song für uns mit einer bestimmten Erinnerung verbunden ist, dann aber ständig verändert wird? Wird das frühere Erlebnis – wie die alte Version des Songs aus dem Netz – dann aus unserem Gedächtnis gelöscht? Und ausserdem: Wer bloss will sich immer wieder eine andere Version desselben Songs oder Albums anhören?

Kanye West als Identifikationsfigur, End- und Kulminationspunkt der zombiehaften Arbeitskraft im Neoliberalismus: Stets auf sich bezogen leistet er der spätkapitalistischen Anforderung Folge, immerzu produktiv zu sein, Neues zu liefern, das niemand wirklich haben will, und sich dabei bis zur Neige selbst auszuschöpfen. Das Netz, von dem wir nicht lassen können, ist sein Spielfeld, sein grossflächiger Werbeträger, sein Distributionsmittel und seine Einnahmequelle.

Wählen wir unsere Musik überhaupt noch bewusst aus, oder ist unser Musikkonsum nicht längst ein Produkt der Algorithmen von Spotify, Discogs und Apple Music? Die Streaming- und Sammeldienste machen es sich zunutze, dass die Grenze zwischen Realität und Virtualität immer mehr verschwimmt, und hacken so das Musikbusiness. Westliche Popkultur hat ihre Relevanz als Motor von gesellschaftlichen Veränderungen verloren und tritt nun in veränderter Form auf: Je nach Gemütsverfassung und Ort ist der dazu passende Soundtrack eine treibende Kraft oder eine willkommene Ablenkung für uns dauerrotierende LeistungsoptimiererInnen.

Ohne Datenstrom funktionieren

Gerade weil die Veränderung der Gesellschaft immer nur ein paar Klicks entfernt ist, sollten wir Musik radikal anders machen, erleben und denken. Beispielsweise indem wir Plattformen für Gemeinschaften bilden, die auch ohne Datenstrom funktionieren, dafür aber über Stadt- und Landesgrenzen hinausgehen. Indem Netze geschaffen werden, in denen der Individualismus nicht in die Isolation, in den Wettkampf oder in die Überforderung und letztlich ins Burn-out führt, sondern bestenfalls – aufgrund gemeinsamer Interessen und Einstellungen – ein Antrieb für Zusammenarbeit ist. Das Vinylrevival der letzten Jahre ist dafür keine Lösung: Es ist selber ein Produkt von Onlinecommunitys.

Ein Beispiel für ein solches Netz ist das multidisziplinäre Label Pan, das vom Exilgriechen Bill Kouligas in Berlin betrieben wird. Kouligas sondiert laufend die sich rasant verändernde technische und ästhetische Gegenwart. Dabei baut er auf ein Netz von Musikerinnen, bildenden Künstlern, Theoretikerinnen und Autoren, die jene Gegenwartsdiagnose weiterführen. Sie bilden eine Gemeinschaft, die ohne feste Grössen wie bestimmte Genres, Tonträgerformate, lokale Verwurzelungen oder soziologische Grenzen auskommt. Diese Gemeinschaft kann ein Modell für den zukünftigen Umgang mit Musik sein. Wir sollten Ratliffs Vorschlag, Kategorien zu überwinden, die unseren Musikgenuss beschränken, also auch auf die Institutionen ausweiten, in denen Musik gemacht, erlebt und gedacht wird.