Ja zum Atomausstieg: Auch du kommst nicht davon

Nr. 47 –

«Duck and cover» sollten sie im Ernstfall: sich ducken und in Deckung gehen. Das lernten Schulkinder in den fünfziger Jahren in den USA. Mit einem fröhlichen Film über die Schildkröte Bert, die sich bei Gefahr in ihren Panzer zurückzieht, versuchte die US-Zivilverteidigungsbehörde, den Kids das richtige Verhalten einzuimpfen. Damals ging es nicht um einen AKW-Unfall: Man erwartete den Atomkrieg.

Es ist einfach, heute über den naiven Film zu lachen, in dem die Kinder unter ihren Schulbänken «cover» suchen, als schütze das vor Radioaktivität. Aber sind wir wirklich so viel besser auf den atomaren Ernstfall vorbereitet?

Auch in der Schweiz wurde uns etwas eingeimpft: Wir sollen Radio hören, wenn die Sirenen heulen. Die meisten würden heute aber etwas anderes tun: nach Infos googeln und die Liebsten anrufen. Da ist es absehbar, dass das Mobilfunknetz zusammenbräche. Stromausfälle wären ebenfalls zu befürchten, gerade in der Nähe eines notfallmässig abgeschalteten Kraftwerks. Wer hat heute noch ein Batterieradio?

Und auch wenn der Empfang funktioniert: Was entscheidet die Nationale Alarmzentrale? Schickt sie die Leute in den Keller, oder ordnet sie die Evakuation an? Ein folgenschwerer Entscheid: Wenn während der Evakuation der Wind dreht, trifft die radioaktive Wolke voll auf die Flüchtenden.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz behauptet, «der grösste Teil der Evakuierungswilligen» könne die Zwanzig-Kilometer-Zone rund um ein AKW in zwölf Stunden verlassen. Für die Städte Bern und Biel, Spitäler und ähnliche Institutionen ist das völlig unrealistisch. Das Berner Inselspital, zwölf Kilometer vom AKW Mühleberg entfernt, bräuchte nach eigenen Angaben 24 bis 48 Stunden für eine Räumung. Und was ist mit Alten und Kranken, die zu Hause leben? «Gerade bei den hilfsbedürftigsten Menschen setzt der Notfallschutz fast ausschliesslich auf die Nachbarschaftshilfe», schreiben die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz.

Im Ernst, liebe AargauerInnen: Wenn in Beznau Radioaktivität austritt, Sie mit Kind und Kegel flüchten müssen, das Baby schreit und die ältere Tochter weint, weil sie die Katze nicht mitnehmen darf – kümmern Sie sich dann noch um die gehbehinderte Nachbarin? Und riskieren, dass Ihre Familie deswegen eine höhere Dosis abbekommt? Es gibt ziemlich ungemütliche Studien zur Hilfsbereitschaft in Stresssituationen. Zum Beispiel jene, in der StudentInnen unter Zeitdruck eine Rede vorbereiten mussten, die aufgezeichnet wurde. Auf dem Weg ins Studio kamen sie an einem Mann vorbei, der hustend und stöhnend am Boden hockte. Nur wenige der Untersuchten, die zu grosser Eile angetrieben worden waren, hielten an; manche nahmen den Hilfsbedürftigen nicht einmal wahr. Stress verengt den Blick, macht unsolidarisch. Das merkt man schon zur Stosszeit im Bus – wie wäre es erst nach einem AKW-Unfall? Bei einer unkontrollierten Massenflucht gäbe es vermutlich Tote.

Die «friedliche Nutzung der Kernenergie» ist ein Kind der fünfziger und frühen sechziger Jahre: einer Zeit, als viele glaubten, die Menschheit werde dank Kernfusion bald alle Energieprobleme gelöst haben, sie werde den Mars kolonisieren und habe die Natur vollständig im Griff. Ein naiver Glaube, so naiv wie die damaligen Bilder von glitzernden Raumschiffen und gigantischen Städten im Weltall, die heute so nostalgisch wirken.

Als es im AKW Three Mile Island 1979 zur Kernschmelze kam, war es schon lange vorbei mit dem grenzenlosen Fortschrittsglauben. Nicht nur die politischen Umbrüche der späten Sechziger hatten ihn angekratzt, sondern auch die üblen Folgen all der hochgiftigen Stoffe, die man in den Boomjahren so sorglos verwendet hatte: von DDT über Asbest bis Quecksilber und Blei. Die Schweiz hatte damals ihre Beinahe-AKW-Katastrophe schon hinter sich: 1969 im Versuchsreaktor von Lucens, heute vergessen.

Dann zeigte 1986 der GAU von Tschernobyl, was «menschliches Versagen» heissen kann. 25 Jahre später zeigte Fukushima, dass sich die Erdkruste nicht um menschliche Pläne kümmert. Und diese Woche hat die Erde in Japan wieder gezittert.