Nach der Wahl in Venezuela: Wenn zwei Züge aufeinander zurasen

Nr. 31 –

Während sich Venezuelas Präsident Nicolás Maduro als Wahlsieger gibt, spitzt sich der Konflikt mit der Opposition immer weiter zu. Die Szenerie erinnert eine an eine Blaupause aus weit zurückliegenden Zeiten.

Es kam, wie es kommen musste. 41,5 Prozent der Stimmberechtigten haben am Sonntag nach Angaben der zuständigen Behörde ihre Stimme bei der Wahl zu einer Verfassunggebenden Versammlung in Venezuela abgegeben, über acht Millionen. Wenn eine Zahl veröffentlicht wurde, dann war klar, dass es mehr als die 7,2 Millionen sein mussten, die am 16. Juli bei einer von der Opposition organisierten Volksbefragung gegen die Abhaltung dieser Wahl gestimmt haben sollen. Und es war auch klar, dass die Opposition laut «Betrug» rufen würde. Schon im Vorfeld hatte sie den Wahltag als «Stunde null» ihres Aufstands gegen Präsident Nicolás Maduro ausgerufen.

Beispiel Jamaika

Maduro gab sich danach als Sieger: «Sie konnten das Volk nicht aufhalten, weder mit Drohungen noch durch Betrug und schon gar nicht mit Lügen.» Mit «sie» meinte er nicht nur die Opposition, sondern auch ihre ausländischen HelfershelferInnen. Die Regierungen von Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Peru oder Paraguay liessen verlauten, sie würden die Wahl nicht anerkennen. Sie alle werden regiert von streng neoliberalen Präsidenten, die – je nach Land – auch kalte Putschisten, mutmassliche Drogenhändler oder Menschenrechtsverachter sind. Die USA kündigten an, sie würden über Sanktionen nachdenken, die den für Venezuela lebenswichtigen Ölsektor treffen sollen.

Auch das war absehbar gewesen. Deshalb stellt sich die Frage, warum Maduro überhaupt eine neue Verfassung will. Venezuela hat seit 1999 das demokratischste und sozialste Grundgesetz, das es in diesem Land jemals gab, initiiert von Hugo Chávez. Sein Ziehsohn und Nachfolger Maduro konnte die Notwendigkeit einer Neufassung nie richtig erklären. Die Opposition behauptet, er wolle das dafür nötige Gremium nur, um das Parlament aufzulösen. Eine Verfassunggebende Versammlung kann das. Aber wozu? Die von der Opposition dominierte Abgeordnetenkammer wurde längst durch Beschlüsse des madurotreuen Obersten Gerichtshofs kaltgestellt. Es scheint eher, als hätten sich Maduro und die Opposition so verrannt, dass «zwei Züge ungebremst aufeinander zurasen». So sagt es der Politologe Nicmer Evans, ein überzeugter Chavist.

Die Szenerie erinnert fatal an eine Blaupause aus weit zurückliegenden Zeiten, inklusive der Fehler der Regierung: die Präsidentschaft von Michael Manley 1972 bis 1980 auf Jamaika. Auch der wollte – wie Hugo Chávez – mit seinem demokratischen Sozialismus zunächst nicht viel mehr als einen sozialen Ausgleich. Er führte Mutterschaftsurlaub ein, dekretierte Ausgleichszahlungen für Zuckerrohrarbeiter ausserhalb der Ernte, schaffte das Schulgeld ab, liess Erwachsene alphabetisieren und begann mit einer dringend nötigen Landreform. Um das zu finanzieren, wurden Konzerne und Reiche höher besteuert. Oligarchie und Mittelschicht schafften daraufhin Kapital und Ersparnisse ins Ausland; Ingenieure, Ärztinnen, Anwälte und Lehrerinnen emigrierten. Dazu kamen mit der Ölkrise explodierende Energiekosten.

Jamaika versank in einer Wirtschaftskrise. Die USA mischten kräftig mit, bis hin zu einem vom Geheimdienst CIA eingefädelten gescheiterten Mordanschlag auf den Reggaestar Bob Marley, der 1976 mit einem Friedenskonzert für Entspannung sorgen wollte. Das Konzert fand statt, aber es nützte nichts. Die Polarisierung nahm zu, Michael Manley wurde immer verbalradikaler. Gleichzeitig verhandelte er mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank über Kredite und bot im Gegenzug neoliberale Reformen an.

Schlechte Aussichten

Venezuela hat das alles auch erlebt: Sozialreformen unter Chávez und die Reaktion der Mittel- und Oberschicht. Boykott, Kapitalflucht und Emigration von Fachkräften, immer unterstützt durch die USA. Dann brach der Ölpreis ein, die Krise war da. Die Polarisierung spitzt sich zu, und auch Maduro wird immer verbalradikaler. Gleichzeitig bedient er internationale Gläubiger, wann immer er kann, pünktlich aus den schmaler werdenden Währungsreserven – trotz der verheerenden Versorgungskrise.

Was passiert, wenn zwei Züge aufeinander zurasen, zeigt das Beispiel Jamaika. Im Wahlkampf von 1980 liessen die linke People’s National Party und die rechte Jamaica Labor Party ihre fanatisierten Banden los. Mindestens 800 Menschen wurden ermordet. Am Ende gewann die Rechte. Keine guten Aussichten für Venezuela.