Fahrende in der Schweiz: «Hier nicht – frag doch mal weiter oben»

Nr. 42 –

Sie fahren seit Jahrhunderten durch das Gebiet der heutigen Schweiz. Und doch stossen Jenische, Sinti und Roma auf der Suche nach genügend Halteplätzen weiterhin auf bürokratische Hindernisse und den Widerstand der sesshaften Bevölkerung. Wieso eigentlich?

Durchgangsplatz Kaiseraugst: «Immer wieder werfen Unbekannte Steine, manchmal Eier über die Hecken auf uns.»

«Ein Verständnis für unsere fahrende Lebensweise fehlt weitgehend bei den Sesshaften.» Die Telefonverbindung ruckelt, dann bricht sie ab. Einige Minuten später ist Andreas Geringers Stimme wieder zu hören: «Entschuldigen Sie, hier sind immer wieder Funklöcher.»

Der Präsident des Verbands Sinti und Roma Schweiz, der auch zwischen der fahrenden und der sesshaften Bevölkerung vermittelt, fährt gerade – wie so oft – durchs Land, heute im Aargau. Er redet weiter: «Dabei waren wir fahrenden Minderheiten schon hier, als es die Schweiz noch gar nicht gab! Weil sich einige wenige nicht an die Regeln halten, wird uns allen vorgeworfen, nicht anständig zu sein. Apropos anständig: Auf manchen alternativen Wagenplätzen – die ja in gewisser Weise unsere Lebensweise imitieren – siehts katastrophal aus. Rundherum Bagage, ein einziges Chaos. So könnte ich nicht leben.»

Die Stimmung unter fahrenden Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz ist angespannt. Es gibt zu wenige Plätze, und das schon viel zu lange. Ein Notzustand, der sich sogar noch verschlimmert. Und dies, obwohl die Schweiz bereits 1998 das EU-Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (worunter sie damals pauschalisierend auch «die Fahrenden» verstand) ratifizierte. Folgt man den Zahlen der bundeseigenen Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, ist die Zahl der Durchgangsplätze zwischen 2000 und 2015 von 46 auf 31 geschrumpft. 2017 forderte der Uno-Menschenrechtsausschuss die Schweiz denn auch dazu auf, ausreichend Halteplätze für fahrende Sinti, Roma und Jenische zu schaffen. Eine Odyssee durch die Schweiz ergibt: Es ist keine Wende in Sicht. Wie konnte es so weit kommen?


Es gibt grob gesehen drei Gruppen, die eine «fahrende» Lebensweise pflegen und sich dauerhaft oder in regelmässigen Abständen in der Schweiz aufhalten: Jenische, Sinti und Roma. Schätzungsweise 80 000 Angehörige der Roma leben in der Schweiz, wobei die allermeisten von ihnen sesshaft wohnen. Ungefähr 3000 Roma und Romnija mit Staatsangehörigkeiten umliegender Länder – vor allem Frankreich, Deutschland und Italien – besuchen die Schweiz jährlich. Meist bleiben sie zwischen zwei und vier Monate im Land. Viele von ihnen haben hier einen festen KundInnenstamm. Von den über 30 000 Jenischen, die in der Schweiz leben, sind 2000 bis 3000 fahrend. Zudem leben rund 500 fahrende Sinti in der Schweiz.

Auf ihren Reisen durch das Land bieten alle diese Gruppen verschiedene Dienstleistungen an, so etwa handwerkliche Reparaturen, das Streichen von Fassaden und Fensterläden oder den Handel mit Textilien. Schweizer Fahrende stellen im Winter ihre Wagen auf einen Standplatz oder beziehen vorübergehend eine Wohnung, derweil ihre Kinder, die ansonsten per Fernschulsystem lernen, die öffentliche Schule besuchen.

Mehr als siebzig Prozent der Plätze sind von der Polizei verwaltet. Das stehe in einer langen, der fahrenden Lebensweise gegenüber feindlich eingestellten Tradition der Schweiz, wie Angela Mattli von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) sagt. Venanz Nobel, jenischer Autor, Präsident des jenischen Vereins Schäft Qwant und in den achtziger und neunziger Jahren selbst «auf Reise», doppelt nach: «Bis weit hinauf in die Bundesstiftung Zukunft für Schweizer Fahrende reicht die Vorstellung, es sei rechtens, die Plätze von der Polizei verwalten zu lassen.» Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse, der ältesten Organisation schweizerischer Jenischer und Sinti, betont: «Wir fahrenden Jenischen, Sinti und Roma haben dieselben Pflichten wie die Sesshaften, aber nicht die gleichen Rechte. Wir sind die meistkontrollierten Menschen der Schweiz.» Alle VertreterInnen sind sich einig: In Zukunft müsse sich das ändern. Die Polizei habe im normalen Alltag auf den Plätzen nichts verloren.


Unweit des Flughafens Basel-Mulhouse befindet sich gegenüber der Psychiatrischen Uniklinik Basel seit Ende 2018 ein neuer Durchgangsplatz. Zehn Wohnwagen stehen an diesem heissen Tag Ende August rund um die sogenannte Infrastrukturinsel mit vier Toiletten, Duschen und Wasserzugang. Den Strom, den die MieterInnen neben den täglichen 13 Franken Platzgebühr und einer Kaution von 200 Franken extra zahlen, beziehen sie pro Wohnwagen von einer Säule.

Solche Plätze, die für alle Nationalitäten offen sind, sind eher selten: Die meisten Durchgangsplätze bevorzugen SchweizerInnen. Doch an diesem Tag stellt sich in Basel nach kurzer Zeit die Frage: Wieso sind keine Schweizer Reisenden hier? Es ist Vormittag, die meisten Männer sind ausserhalb auf Arbeit. Frauen, Kinder und Jugendliche putzen, kochen, spielen und unterhalten sich miteinander. Fünf Französinnen sitzen um einen Tisch unter dem Vordach eines Wohnwagens und erzählen bei Eistee aus Plastikbechern. Der Platz gefalle ihnen gut. Es sei der schönste in der ganzen Schweiz. Die Älteste von ihnen bereist die Schweiz bereits seit 42 Jahren. Die Situation hierzulande sei jedoch schwierig, sagt sie: Es gebe viel zu wenige Plätze und einen deutlich spürbaren Rassismus.

Diesen Eindruck bestätigt die GfbV: In jüngster Zeit verzeichnet die Organisation eine Zunahme diskriminierender und rassistischer Äusserungen gegenüber Jenischen, Sinti und Roma – im Alltag ebenso wie in der Politik und in den Medien. Auch Spannungen und Ressentiments unter den verschiedenen fahrenden Gruppen sind keine Seltenheit. Für Daniel Huber, den Präsidenten der Radgenossenschaft, liegt der Ursprung dafür in der Politik: «Spannungen und Rassismus sind gegenseitig und gehen von allen Gruppen aus. Wenn jede Gemeinde ein bisschen Platz zur Verfügung stellen würde, hätten wir dieses Problem nicht.» Natürlich gebe es auch etliche Beispiele, wo das Miteinander der verschiedenen Gruppen reibungslos funktioniere, «aber aufgrund der verschiedenen Ansprüche und aus gewerblichen Überlegungen ist es besser, für die verschiedenen Gruppen auch verschiedene Plätze zur Verfügung zu stellen». Dafür, dass an jenem Tag in Basel keine Schweizer Reisenden anzutreffen waren, sieht Huber aber einen anderen Grund: Jenische, Sinti und Roma reisten in Familienverbänden, die zuweilen zwölf bis fünfzehn Wagen umfassten. In Basel mit seinen zehn Stellplätzen sei der Platz schlicht zu klein.


Simon Röthlisberger muss noch rasch ein Telefonat zu Ende führen. Es ist Zeit für unser Treffen, aber der Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende hat viel zu tun. Wenige Minuten verspätet öffnet er die Tür und entschuldigt sich. Auf dem Tisch vor ihm liegen zahlreiche Dokumente ausgebreitet; Pläne, Listen, Post-it-Zettel.

Den Zweck der 1997 vom Bund gegründeten Stiftung fasst Röthlisberger so zusammen: «Unser Ziel ist die Verbesserung der Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Akteure zugunsten guter Lebensbedingungen der Jenischen, Sinti und Roma. Wir funktionieren als Schmiermittel zwischen Gemeinden, Kantonen und Bund.» Natürlich drehe sich die Zusammenarbeit in erster Linie um die Plätze. «Es herrscht ein regelrechter Verteilkampf. Im letzten Jahrzehnt hat der Druck auf das Siedlungsgebiet durch Wohnraum, Wirtschaft und Industrie noch einmal zugenommen.» Die Stiftung habe zusammen mit Organisationen der Reisenden berechnet, wie viele Plätze es in der Schweiz mindestens bräuchte: Heute gibt es laut Stiftung 40 Durchgangsplätze (meist mit Präferenz für SchweizerInnen) – mit eingerechnet sind dabei auch acht Provisorien. Es sollten jedoch 80 sein. Transitplätze (grössere, nur für AusländerInnen) gebe es momentan sieben, es bräuchte aber mindestens zehn. Standplätze (zur Überwinterung) gibt es landesweit nur 15, es sollten aber mindestens 40 sein. Der eingangs erwähnte Mediator Andreas Geringer sagt, selbst die Bestandeszahlen vom Bund seien zu optimistisch – zumal darin auch unzureichend ausgestattete Plätze mitgezählt seien.

Röthlisberger wirkt wie ein beflissener Staatsangestellter, dem keine praktischen Mittel zur Verfügung stehen. Tatsächlich stellt das Bundesamt für Kultur der Stiftung jährlich nur 250 000 Franken zur Verfügung, worin auch der Lohn des Geschäftsführers enthalten ist. «Das ist ein Tropfen auf den heissen Stein», kommentiert Kemal Sadulov vom Verein Romano Dialog.

Wie rund die Hälfte des Stiftungsrats ist Simon Röthlisberger ein sesshafter Mehrheitsbürger. Erst seit 2017 besteht die andere Hälfte aus Jenischen und Sinti – fahrenden wie sesshaften. Auffallend ist: Roma und Romnija sind im Stiftungsrat gar nicht vertreten. Das hängt damit zusammen, dass der Bundesrat 2018 einen Antrag auf Anerkennung der Roma als nationale Minderheit abgelehnt hat (Jenische und Sinti hingegen sind seit 2016 als nationale Minderheiten anerkannt). Sadulov sagt dazu: «Behörden und Gesellschaft sind immer noch in der Zigeunerpolitik der Vergangenheit verhaftet, in der massiven Diskriminierung und Ablehnung.» Die Schweiz wolle sich dem Problem nicht stellen und unternehme nichts gegen die verbreiteten Ressentiments gegen fahrende Roma: «Dadurch ist es überhaupt erst möglich, dass sich Gemeinden und Stimmbevölkerung immer wieder gegen ihre Interessen stellen.»


Im grossflächigen Kanton St. Gallen zum Beispiel ist in den letzten zwanzig Jahren kein einziger Durchgangs- oder Transitplatz zustande gekommen. Der Freisinnige Willi Haag, von 2000 bis 2016 Regierungsrat und Vorsteher des Baudepartements, erinnert sich: «In meiner Zeit habe ich trotz riesigem Aufwand kein Resultat hingekriegt.» Der Regierungsrat entwickelte ein Konzept, um die Gemeinden maximal zu entlasten. Darin vorgesehen war, dass der Kanton die im Richtplan festgelegten sechs Durchgangsplätze kaufen, umzonen und bebauen würde, sodass sich die Gemeinden nur noch um den Betrieb hätten kümmern müssen – und auch diesen hätten auslagern können. Aufgrund der Aufarbeitung der schrecklichen Geschichte der «Kinder der Landstrasse» sei zwar ein gewisses Bewusstsein für die schwierige Situation der fahrenden Bevölkerungsgruppen vorhanden (vgl. «Die Strategien der Abweisung» im Anschluss an diesen Text). Trotzdem würde es vielen Ansässigen aufgrund diffuser Ängste in jedem Fall «einfach gerade hier nicht passen». Wenn er beispielsweise in einem Tal ein Dorf für einen Platz angefragt habe, so erzählt Haag, sei die Antwort gekommen: «Dieser Platz ist nicht geeignet, frag doch mal weiter oben.» Und im Dorf weiter oben angekommen, habe es geheissen: «Hier gibt es viele Stromleitungen, frag besser weiter unten.» Als einmal fahrende Jenische in einer Gemeinde spontan haltgemacht hätten, sei noch am selben Tag das Gerücht kursiert, sie würden im Freibad keinen Eintritt bezahlen und dabei gleich auch noch Haare schneiden, färben und auf dem Boden liegen lassen. Vor Ort habe sich das Geschilderte als eine einzige Lüge entpuppt. Haags Masterplan scheiterte: Erst wurde der Kredit für die sechs Durchgangsplätze als angeblich unnötig und zu teuer im Kantonsparlament abgelehnt. Und dann wurden konkrete Vorlagen in Thal und Gossau an der Urne zu Fall gebracht.

Im August trug sich in Vilters-Wangs die jüngste Episode dieses Debakels zu: Der Gemeinderat erteilte der Vorlage eines provisorischen Durchgangsplatzes eine Abfuhr. In einem letzten Schritt könnte zwar ein Platz baurechtlich gesehen – sofern der Boden dem Kanton gehört – auch ohne die Zustimmung der Gemeinde geschaffen werden, bestätigt das St. Galler Baudepartement. Sich über die Gemeinden hinwegzusetzen, liege jedoch nicht im Interesse des Kantons. Die Durchsetzung fundamentaler Rechte der Minderheiten scheint die Behörden viel Mut zu kosten. Dies, obwohl die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende die Kantone mahnt, ihre raumplanerische Verantwortung wahrzunehmen. Will heissen: Niemand möchte sich an der gutschweizerischen Gemeindeautonomie die Finger verbrennen.


Kaiseraugst im Aargau, an der Grenze zu Deutschland. Zu Fuss ist der Durchgangsplatz in einer Viertelstunde von einer Busstation aus zu erreichen. Neben einer befahrenen Landstrasse, gleich bei der Autobahnauffahrt, liegt ein Kiesplatz – von aussen unbemerkt, da umgeben von grünen Hecken. Am vorderen Rand stehen ein Toilettenhaus und eine Mulde für den Müll. Wie schon in Basel befinden wir uns hier auf einem der wenigen Durchgangsplätze, die nicht nur für Schweizer Reisende offen sind. Doch auch da scheinen sich nur wenige SchweizerInnen aufzuhalten – an diesem Tag gar keine.

«Das grösste Problem ist, dass wir nur einen Monat hierbleiben dürfen», erzählt eine französisch sprechende Romni durch das offene Fenster ihres Wohnwagens. Sie ist gerade mit Putzen beschäftigt und schaut dabei immer wieder kurz auf. Wohin sie als Nächstes fahren sollten, wenn es so wenige Plätze für ausländische Roma in der Schweiz gebe, fragt sie.

Der Platz ist sehr dürftig eingerichtet. Trotz der allgemeinen Platznot ist er mit seinen zwanzig Stellplätzen an diesem Tag nicht voll besetzt. Die BewohnerInnen fühlen sich von der Verwaltung schikaniert, da sie das Depot von 200 Franken meist nicht zurückbekämen. Die Gemeinde bestätigt: Wenn etwas kaputtgehe oder unsauber zurückgelassen werde, würden die Kosten auf alle Anwesenden verteilt. Kollektive Bestrafung also, egal wer die Platzregeln nicht befolgt hatte.

Der Ehemann unserer Gesprächspartnerin, der inzwischen dazugestossen ist, zeigt auf den hinteren Teil des Areals: «Da stellen wir unsere Wagen nie hin. Immer wieder werfen Unbekannte Steine, manchmal Eier über die Hecken auf uns, Autos hupen im Vorbeifahren.» Polizei und Gemeinde bestätigen die Vorfälle.

Als es zu regnen beginnt, verschwinden alle in ihren Wagen. Nur unser Gesprächspartner und sein Bruder setzen sich unter ein Vordach. Während der Erstere seine Wut artikuliert, wirkt sein Bruder eher resigniert: «Noch sieben Tage hier, danach fahren wir wieder nach Frankreich», sagt er. Fertig mit der Schweiz für dieses Jahr. Aus Angst vor Verlust ihrer Kundschaft will niemand den eigenen Namen nennen – und schon gar nicht fotografiert werden. Im Klartext: Wer sich als Roma outet, hat es nicht leicht. Damals wie heute.

Im Gespräch mit den zuständigen Behörden zeigt sich: «Vandalismus» und «Dreck» dienen ihnen als Legitimationsgrundlage für die dürftige Infrastruktur. Auch wenn sich einzelne Personen nicht an die Platzordnung halten mögen: Es scheint, als wolle man den Leuten damit vermitteln, dass sie hier eigentlich gar nicht willkommen sind. In Kaiseraugst stehen gerade mal zwei Toiletten. Die hier Wohnenden fühlen sich von der Verwaltung, die ihnen den Platz in diesem ungepflegten Zustand überlässt, hintergangen. Darauf angesprochen, rechtfertigt der zuständige Gemeinderat Markus Zumbach (SP) diese Platzpolitik ausführlich, möchte aber nicht zitiert werden.

Stéphane Laederich, Präsident der Rroma Foundation und Autor wissenschaftlicher Publikationen zum Thema, sagt: «Die Probleme mit Abfall und Toiletten ergeben sich meistens wegen mangelnder Infrastruktur.» Das Thema werde völlig hochgespielt: «Wenn Sie an einem sommerlichen Sonntagmorgen am Zürichsee spazieren, bevor die Putzequipe durchgefahren ist, sieht es dort auch nicht gerade rosig aus.» Der Historiker Thomas Huonker, der sich seit den achtziger Jahren mit der Geschichte und Gegenwart der fahrenden Lebensweise beschäftigt, sagt: «Die Darstellung einer ganzen Minderheit als angeblich ‹dreckige› Menschen ist die urtümlichste Form von Rassismus.»


Die Notlage der fahrenden Roma, Jenischen und Sinti in der Schweiz scheint sich landesweit nochmals zuzuspitzen. Im Kanton Neuenburg gilt seit Februar 2018 ein neues Gesetz, das fahrende Minderheiten beim spontanen Halt verpflichtet, die Verträge mit den LandbesitzerInnen von den Behörden absegnen zu lassen. Das Halten auf Privatgrundstücken in Absprache mit den BesitzerInnen – eben der spontane Halt – ist ein wichtiger Teil der fahrenden Lebensweise. Das Gesetz ermuntert zu vermehrten Polizeikontrollen. Aus Sicht der GfbV und des Vereins Schäft Qwant verstösst das gegen die geltende Rassismuskonvention. Zusammen mit Einzelpersonen haben sie beim Uno-Ausschuss zur Beseitigung von Rassendiskriminierung eine Klage gegen die Schweiz eingereicht.

Motorisierte Lebensweise: Durchgangsplatz Kaiseraugst zwischen Landstrasse, Autobahnauffahrt und Bahngeleisen.

Im Kanton Bern erlaubt das neue Polizeigesetz seit diesem Frühling die vereinfachte Wegweisung von Fahrenden. Zudem hat die Junge SVP ein Referendum gegen den bewilligten Kredit für einen Transitplatz auf einer Autobahnraststätte in Wileroltigen eingereicht. Und im Kanton St. Gallen hat die Radgenossenschaft der Landstrasse nach einer erneuten Abfuhr in Sachen provisorischer Durchgangsplatz die Gemeinde Thal verklagt. Die Radgenossenschaft stützt sich dabei auf einen Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2003, wonach die Schweiz verpflichtet ist, den Bedürfnissen der fahrenden Minderheiten in der Schweiz raumplanerisch Rechnung zu tragen. Daniel Huber, ihr Präsident, ist bereit, bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu gehen.

Historischer Streifzug : Die Strategien der Abweisung

Jenische leben seit dem Mittelalter in Europa. Die Gruppe der Roma, wozu historisch gesehen auch die Sinti zählen, ist ursprünglich aus der Region Indien über Persien nach Europa gekommen. Ihre erste Ankunft auf dem Gebiet der heutigen Schweiz wurde 1418 dokumentiert. Ihrer aller Geschichte hierzulande ist von Repression geprägt. Sie reicht von Einreisesperren, der verweigerten Hilfeleistung für von Nazideutschland verfolgte Jenische, Roma und Sinti über polizeilich geführte «Zigeunerregister» (bis in die neunziger Jahre) bis zur Aktion «Kinder der Landstrasse»: Unter dieser Bezeichnung nahm die Pro Juventute bis ins Jahr 1973 mit Unterstützung des Bundes den Jenischen über 500 Kinder weg – mit dem Ziel, der fahrenden Lebensweise ein Ende zu setzen. Aufgrund der schweizerischen Vertreibungspolitik ist es der Gruppe der Roma erst im 20. Jahrhundert gelungen, in der Schweiz Fuss zu fassen.

Von 1888 bis 1972 bestand ein «Zigeunereinreiseverbot». Heute sind fahrende Roma und Romnija in der Schweiz vor allem Sinti und Manouches, Lowara, Kalderasa und Vlach. Weniger als ein Prozent aller Angehörigen der Roma weltweit pflegen eine fahrende Lebensweise. Eine Anfrage zur Anerkennung der Roma als nationale Minderheit lehnte der Bundesrat 2018 unter anderem wegen angeblich fehlender langjähriger Bindung zur Schweiz ab. Der Historiker Thomas Huonker sagt dazu: «Der Bundesrat nutzt die frühere Verfolgungspolitik, um den erneuten Ausschluss zu legitimieren.»

Seit jeher halten fahrende Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz an Orten, die sich für sie anbieten: in Kiesgruben, auf Landstücken von BäuerInnen oder auf SBB-Arealen etwa, die über viele Jahrzehnte in Absprache mit den BesitzerInnen genutzt wurden. Heute «spontaner Halt» genannt, ist das weiterhin ein wichtiger Teil der fahrenden Lebensweise – auch wenn dies tendenziell schwieriger geworden ist. In den sechziger und siebziger Jahren wurden ehemalige Halteplätze vermehrt zu Campingplätzen für Sesshafte umfunktioniert. Durch den Bauboom, die Zersiedelung und die Zonenplanung in den siebziger Jahren wurde der Platz für die fahrenden Minderheiten zusehends knapper. Neu gegründete Organisationen der Reisenden forderten daraufhin eine schweizweite behördliche Bereitstellung von Halteplätzen.

1983 wechselte die Zuständigkeit vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement zum Bundesamt für Kultur. Daraufhin wurden offizielle Plätze geschaffen. Ungefähr zu dieser Zeit sind auch die heute geläufigen Bezeichnungen entstanden: Transit-, Durchgangs- und Standplatz. Paradoxerweise habe diese Institutionalisierung einen negativen Effekt gehabt, sagt Thomas Huonker: «Unter dem Titel der Förderung fand faktisch eine Verknappung der Plätze statt, oft unter Ausschluss der Roma.» Da nun offizielle Plätze vorhanden waren, sahen Behörden weniger Legitimität für spontane Halte und waren geneigt, Leute wegzuweisen – in manchen Gemeinden zieht sich das bis heute fort.

Nora Strassmann