Von oben herab: Recht und billig

Nr. 25 –

Stefan Gärtner über Ohrwürmer und Prognosen

Es ging an dieser Stelle zuletzt um die Leichen in meinem Musikkeller, und heute genüge die Mitteilung, dass sich Textzeilen ganz unabhängig davon im Schädel einnisten, ob sie nun zu nötiger oder nicht so nötiger Musik gehören: «Alle alle alle ham sie recht, / und den andern andern andern geht es schlecht, / und so ist das ganze Menschengeschlecht / seit Jahrtausenden im Recht», und ich war sechzehn und Riesenfan vom «Scheibenwischer», der legendären Satiresendung von und mit Dieter Hildebrandt. Für Jüngere: Dieter Hildebrandt war so eine Art Dieter Nuhr, nur im Gegenteil, nämlich auf links gedreht. Dieter Hildebrandt fand, wie sich das für einen Satiriker gehört, erst einmal alles schlecht, Dieter Nuhr findet alles gut und bloss jene schlecht, die immer alles schlecht finden. Dieter Hildebrandt war der Held der linksliberalen, akademischen Mitte, Dieter Nuhr ist das Idol des bösartigen deutschen Kleinbürgertums. Welcher laut Eckhard Henscheid «unbedarfteste aller Blödmänner» die zitierte Zeile sang, vielleicht sogar im «Scheibenwischer», das soll, wer mag, bitte googeln.

Es geht natürlich immer darum, wer recht hat, nur mir nicht. Ich bin sogar froh, wenn ich nicht recht habe, dann ist nämlich alles nicht so schlimm wie von mir gewohnheitsmässig ausgemalt. Der «Tages-Anzeiger» hat in einem sog. Faktencheck den Seuchenmann vom BAG, Daniel Koch («Mr. Corona»), und die Epidemiologen Christian Althaus (Universität Bern) und Marcel Salathé (ETH Lausanne) gegeneinander antreten lassen; die Forscher hatten Koch anfangs vorgeworfen, zu träge zu reagieren, und Althaus fordert nun eine öffentliche Untersuchung. Wer wann in welchem Punkt recht hatte, das interessiert den «Tagi», Christian Althaus und die auf Krawall gebürstete Kundschaft, mich aber nicht; es will mir bei einer so komplexen Angelegenheit nur natürlich scheinen, dass man hinterher schlauer ist, wie Politik und Wissenschaft ohnehin zwei paar Schuhe sind.

In Deutschland ist der Virenprofessor Drosten, also der deutsche Mister Corona, ins Visier der «Bild» geraten, weil eine Studie zur Virusübertragung durch Kinder wohl anfechtbar war und die «Bild» gern Volkes Stimme gab, das keine Lust mehr auf Lockdown, schulfrei und die Diktatur der Studierten hatte. Drosten sagte, es habe schnell gehen müssen, und selbst wenn er nicht recht gehabt haben sollte, hätte er immer noch rechter gehabt als die dumme «Bild», und es ist vielleicht angezeigt, darauf zu bestehen, dass Fehleinschätzungen die humane Regel und nicht automatisch ein Skandal sind.

Ich habe da freilich leicht reden, denn nicht nur sind meine Fehleinschätzungen selten, sie interessieren auch niemanden. Ich kann also auch sehr mutige Thesen in die Welt wuchten wie die, dass die Rede davon, Corona werde unser Konsum- und Sozialverhalten dauerhaft verändern, Quatsch ist. Wenn die Leute wieder können, wie sie wollen, dann werden sie auch, und der «Tagi», beileibe nicht immer nutzlos, springt mir bei. Unter der Überschrift «Warum Zürcher die Masken verweigern» antworten Fachleute etwa auf die Frage, ob die Leute von der Limmat, die wohl gern oben ohne im Tram sitzen, schlicht «asozial» seien: «Eine Maske», führt ein Verhaltensökonom aus, «schützt gemäss aktuellem Wissensstand hauptsächlich andere. Es ist also etwas, das man für andere tut», und ein Politologe ergänzt: «Die Leute denken immer zuerst an sich selbst», und es gibt, ergänze nun ich, nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass sich das ändern wird, wenn es doch das zentrale Mantra gegenwärtiger Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist, dass, denkt jeder und jede an sich, an alle gedacht ist. Und das Ergebnis, ich hab es im Kopf: «Und so fliegt das ganze Menschengeschlecht / in die Luft, und das mit Recht – mit Recht!»

Muss natürlich nicht stimmen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.