Retraumatisierung im Altersheim: «Vielleicht spuckt sie, weil sie in Not ist»

Nr. 32 –

Viele alte Frauen werden im Altersheim retraumatisiert: Erfahrungen von sexualisierter Gewalt kommen durch Ohnmachtssituationen wieder hoch. Ein Gespräch mit der ehemaligen Altenpflegerin und Expertin für geriatrische Psychotraumatologie Martina Böhmer.

Altenpflegerin in einem Heim: «Manche alte Menschen machen einfach alles mit, da sie nie gelernt haben, für sich einzustehen», sagt Martina Böhmer. Foto: Alamy

WOZ: Frau Böhmer, Sie forschen seit vielen Jahren zu sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen. Warum kommen solche Traumata, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen, im Pflegeheim wieder hoch?
Martina Böhmer: Pflegehandlungen sind eigentlich ein totaler Übergriff: Fremde Hände tun etwas am Körper, überschreiten Grenzen. Allein durch das Körpergedächtnis kommen so wieder Erinnerungen auf. Das ist den betroffenen Frauen – und auch alten Männern, die sexualisierte Gewalt erfahren haben – selbst nicht unbedingt bewusst, sie können diese alten Gefühle, die wieder hochkommen, nicht zuordnen und meist auch nicht verbalisieren.

Spielt nicht auch das allgemeine Gefühl von Autonomieverlust eine Rolle?
Was jedem Trauma eigen ist, ist ein Gefühl der Ohnmacht. Gerade in einer Pflegebedürftigkeit fängt die Ohnmacht schon im Kleinen an: etwa wenn Pflegende mit dem Kaffeewagen durch die Gegend fahren und Becher verteilen, in denen die Milch schon drin ist – Zucker aber nicht. Die aktuelle Ohnmachtssituation trifft auf den Boden von früheren Ohnmachtssituationen durch erlebte Gewaltgeschichten. Pflegende und Angehörige haben natürlich das Beste im Sinn, darum ist es äusserst heikel, ihnen verständlich zu machen: Egal was ihr macht, es ist immer eine Ohnmachtssituation, wenn die Betroffenen nicht selbst bestimmen können.

In der Coronakrise hat sich die Situation für Heimbewohnerinnen diesbezüglich noch verschlimmert. Wie äussert sich das konkret, wenn alte Traumata wieder hochkommen?
Die Bandbreite reicht von völlig apathischem bis sehr aggressivem Verhalten: Blutdruck- und Pulserhöhungen; innerliches Aufgeregtsein in Situationen, die an alte Geschichten rühren.

Ich erinnere mich an eine Angehörige, die ihren Mann im Heim besuchte und dort Urin roch. Sie ist völlig aggressiv geworden. In der Beratung wurde deutlich, dass sie als Kind aus Polen vertrieben wurde und tagelang im Güterwaggon unterwegs war, wo es nach Urin roch. Mitunter passiert es auch, dass eine alte Frau aus lauter Not eine Tasse durch die Gegend schmeisst, was dann als Gewalt gegen Pflegende interpretiert wird. Andere wiederum machen einfach alles mit, da sie nie gelernt haben, für sich einzustehen. Diese unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten machen es für Pflegende sehr schwierig, das Geschehen einzuordnen. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, dass Pflegebedürftigkeit grundsätzlich eine Ohnmachtssituation ist und jegliche Reaktionen nicht Symptome einer Erkrankung, sondern auch eine Reaktion auf das Geschehene sein können.

Sie kritisieren, dass in solchen Situationen oft eine falsche Diagnose gestellt wird.
Ich möchte nicht von Diagnose sprechen, das machen nur Medizinerinnen und Mediziner. Wenn aber eine Frau schon die Diagnose Demenzerkrankung hat, dann schreibt man ihr Verhalten schnell dieser Erkrankung zu, weil vielen Pflegenden das Wissen fehlt, dass es überhaupt so etwas wie Traumafolgen und posttraumatische Belastungsstörungen gibt. Wenn eine alte Frau etwas verwirrt daherkommt, wird das schnell auf eine Alterserkrankung geschoben. Es wird kaum gesehen, dass das eine erwachsene Frau ist, mit ihrer Geschichte, die möglicherweise von sexualisierter Gewalt geprägt ist.

Dabei erleben Frauen auch im hohen Alter noch sexualisierte Gewalt.
Genau, aber das passt nicht in unser Bild von alten Frauen. Vergewaltigungen verbinden wir stets mit der Attraktivität der Frauen und mit Sexualität. Aber alte Frauen sind in der allgemeinen Wahrnehmung per se nicht attraktiv – ich sehe das anders – und Sex für sie angeblich kein Thema mehr. Wichtig ist hier auch zu sehen, dass sexualisierte Gewalt so gar nichts mit Sexualität zu tun hat. Dasselbe gilt beim Thema «häusliche Gewalt»: Wieso sollte ein Ehemann, der seine Frau jahrelang misshandelt hat, plötzlich sagen: «Och mein Liebes, jetzt bist du 65, jetzt hör ich halt mal auf»? Das ist doch Quatsch. Es geht doch immer um Macht. Je wehrloser eine Person ist, desto gefährdeter ist sie. Man hat gar nicht im Blick, dass auch 80- oder 100-Jährige noch sexuelle Gewalt erleiden.

Was sind die Konsequenzen für die Betroffenen, wenn man ihr Verhalten falsch einordnet?
Die Frauen, die aggressiv reagieren, werden oft mit Psychopharmaka behandelt und ruhiggestellt oder gar fixiert. Besonders fatal ist das für Frauen, die tatsächlich die Diagnose Demenz haben – diese werden dann gar nicht ernst genommen, sondern erleben stattdessen eine neue Ohnmachtssituation.

Haben Sie ein Beispiel?
Eine alte Frau lässt sich kein Essen geben und wehrt das ab. Die Pflegende hat viele mögliche Ursachen gelernt: Prothese sitzt nicht, Essen schmeckt nicht, Schluckbeschwerden … Sie versucht also, andere Möglichkeiten zu finden, bringt anderes Essen, schaut nach Druckstellen im Mund … Aber es kann auch sein, dass die Frau es schlicht nicht erträgt, dass jemand mit dem Löffel in ihr Gesicht fährt und ihr etwas in den Mund steckt. Wenn die Pflegende versteht, dass viele Pflegebedürftige sexualisierte und andere Gewalt erlebt haben können, denkt sie das automatisch mit und kommt auf eine bessere Idee.

Auf was etwa?
Auf die Idee etwa, die Hand der Frau so zu führen, dass sie sich den Löffel selbst in den Mund steckt. Auch ein hoher Blutdruck muss nicht zwingend auf eine organische Ursache zurückgehen, sondern etwa darauf, dass die Frau permanent Flashbacks erlebt – und das ist vielleicht auch der Grund, warum sie mich anspuckt, wenn ich zur Tür reinkomme. Daher ist es wichtig, generell mögliche Gewalterlebnisse sowie Reaktionen auf Ohnmachtssituationen mitzudenken. Doch viele Pflegende sagen mir: «Dafür haben wir keine Zeit.»

Da kommen auch die Sparmassnahmen ins Spiel. Etwa dass man für bestimmte Pflegehandlungen nur noch wenige Minuten aufwenden darf.
Es ist natürlich schwierig, in der kurzen Zeit eine gute Betreuung zu machen oder Gespräche zu führen. Doch ob ich der Frau nun den Löffel selbst in den Mund stecke oder ihre Hand nehme, damit sie ihn selbst an den Mund führt: Das dauert gleich lang. Um traumasensibel arbeiten zu können, muss ich die Geschichten der Frauen nicht kennen, ich muss einfach verstehen: Diese Frau spuckt gerade, weil sie in Not ist.

Sie haben viele Jahre als Pflegerin gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?
Wenn die Pflegebedürftigen gemerkt haben, dass ich ihr Verhalten respektiere, ist es oft zu vertrauensvollen Gesprächen gekommen. Auch wenn es nur ganz kurz war. Ein Beispiel: Ich lege einer alten Frau einen Katheter, und sie weint oder zuckt zusammen. Da setz ich mich einen Moment aufs Bett und sage: «Das tut Ihnen nicht gut, ne?» Dann ist es egal, ob sie früher vergewaltigt worden ist oder nicht. In dem Moment ist das Legen des Katheters eine Vergewaltigung.

Es gibt aber doch gewisse Pflegehandlungen, die einfach gemacht werden müssen. Wie geht man damit um?
Man muss sich die Frage stellen: Gibt es nicht doch noch eine andere Möglichkeit? Wenn eine Frau blaseninkontinent ist, kriegt sie entweder Windelhosen für fünf bis sieben Liter – das bedeutet, sie sitzt da den ganzen Tag drin – oder einen Blasendauerkatheter. Beides ist schrecklich. Doch es gäbe auch die Möglichkeit, Blasentraining zu machen und sie regelmässig auf die Toilette zu führen. Das ist natürlich sehr zeitintensiv. Eine weitere Möglichkeit wäre, einen Katheter durch die Bauchdecke zu legen. Auch das ist nicht super, aber es ist keine erneute Vergewaltigung. Kurz: Es gibt immer eine Alternative. Das erfordert jedoch ein breites Denken, Empathie und Achtsamkeit.

Man kann mit den alten Frauen ja auch sprechen.
Ja, das kann man. Aber ich kriege oft zu hören: «Wenn die so dement sind, dann kann man nicht mit denen sprechen.» Dann frage ich jeweils in die Runde, ob jemand einen Hund habe, und darauf die Hundebesitzerin: «Kriegen Sie mit, wie es Ihrem Hund geht?» – «Selbstverständlich!» Es geht auch um Feinfühligkeit und darum, im Moment wirklich da zu sein.

Gibt es eine Begegnung, die Sie besonders geprägt hat?
In den achtziger Jahren arbeitete ich in einem Wohnheim. Da lebte eine 96-jährige, hochgradig demenziell erkrankte Frau, die immer Elvis-Lieder sang und ansonsten nicht ansprechbar war. Wir haben sie im Bett versorgt und gewaschen, da sie nicht alleine stehen konnte. Im Bett haben wir ihr auch dreimal die Woche ein Abführzäpfchen rektal verabreicht. Da schrie sie immer «Vati, nicht! Vati, nicht!» Im Team herrschte die Meinung, dass sie ihren «Vati» um Hilfe ruft. Ich hatte so die Idee, dass es auch sein kann, dass ihr Vater ihr früher Ähnliches angetan hat …

Und was haben Sie getan?
Ich war damals noch nicht so weit wie heute, aber immerhin habe ich mich über sie gebeugt, Augenkontakt hergestellt und zu ihr gesagt: «Ich bin das, ich gebe Ihnen jetzt ein Abführzäpfchen.» Das war auch nicht super. Aber doch besser, als hinter ihr zu stehen. Sie guckte zur Wand, und zack: Zäpfchen rein – und sie wusste gar nicht, was mit ihr geschah. Ich versuchte, ihr deutlich zu machen: Da ist niemand, der etwas Schlimmes tut. Aber ich habe daraus gelernt, so was würde ich heute nicht mehr machen. Heute würde ich auf orale Medikation setzen oder Sauerkrautsaft zu trinken geben.

Seit den achtziger Jahren ist viel Zeit vergangen. Ist die Problematik heute in den Institutionen oder auch in der Ausbildung präsenter?
Leider nein. In Fortbildungen und Altenpflegeschulen kriege ich oft zu hören: «Worum soll ich mich denn noch alles kümmern?» Ich glaube aber, dass das auch daran liegt, dass Pflege ein Frauenberuf ist. Die Frauen, die da arbeiten, sind oft genauso von sexualisierter oder häuslicher Gewalt betroffen. Da ist viel Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit. Und eine grosse Scham.

Was muss geschehen, damit sich das ändert?
Das ganze Thema muss enttabuisiert werden. Man weiss, dass in Deutschland im Krieg sehr viele Frauen vergewaltigt wurden, aber man bezieht das nicht auf die heutigen Alten. Mein Wunsch ist immer: Nehmt alte Frauen auch als Frauen wahr, mit einer geschlechtsspezifischen Geschichte, die sehr häufig von sexualisierter Gewalt geprägt ist! Damit wäre schon eine ganze Menge getan. Man muss alte Geschichten nicht unbedingt hochholen, sondern dafür sorgen, dass diese Geschichten gar nicht erst angetriggert werden, indem die Alten immer wieder in Ohnmachtssituationen gebracht werden.

Martina Böhmer

Die Altenpflegerin und Expertin für geriatrische Psychotraumatologie Martina Böhmer (60) leitet in Köln die Beratungsstelle Paula e. V. für Frauen ab sechzig und bietet regelmässig Weiterbildungen an.

Böhmer ist Autorin des Buches «Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen. Ansätze für eine frauenorientierte Altenarbeit» (Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 136 Seiten, 20 Franken) sowie Herausgeberin des Bandes «Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig … Traumasensible Unterstützung für alte Frauen» (Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 2016, 265 Seiten, 30 Franken). Weitere Infos finden sich unter www.martinaboehmer.de.