Abtreibung in Argentinien: Unterwegs zur Fristenregelung

Nr. 51 –

In Argentinien zeichnet sich ein grosser Sieg der Frauenbewegung ab. Der letzte Präsident wollte kein neues Abtreibungsrecht. Nun hat der linke Alberto Fernández überraschend schnell eines vorgelegt.

Kaum eine Debatte im argentinischen Parlament dauerte so lange, und kaum eine hat je so viele ZuschauerInnen angezogen. Tausende standen am vergangenen Freitag die ganze Nacht vor dem Parlamentsgebäude im Zentrum von Buenos Aires; die Reden wurden auf grossen Bildschirmen nach draussen übertragen. Die allermeisten der Anwesenden unterstützten den Gesetzesvorschlag, über den da gestritten wurde. In einer anderen Ecke des Platzes stand eine stillere Minderheit und murmelte Gebete. Nach zwanzig Stunden war es so weit: 131 Abgeordnete stimmten dafür, dass in Zukunft Frauen frei entscheiden können, ob sie eine Schwangerschaft innerhalb der ersten vierzehn Wochen abbrechen wollen. 117 stimmten dagegen, 6 enthielten sich.

Schon vor zwei Jahren war ein ähnlicher Gesetzesentwurf im Abgeordnetenhaus mit einer knappen Mehrheit angenommen worden, danach aber im Senat ebenso knapp gescheitert. Dort sitzen die Abgesandten der Provinzen. Vor allem auf die Delegierten aus den ländlichen Gegenden übten katholische Bischöfe und evangelikale Kirchen Druck aus. Diesmal sind die Rahmenbedingungen anders. 2018 war noch der rechte Mauricio Macri Präsident. Er hatte genauso gegen die Freigabe der Abtreibung gewettert wie der aus Argentinien stammende Papst Franziskus. Seit einem Jahr aber regiert der linke Alberto Fernández, und der hat die Neuauflage des Gesetzesentwurfs selbst ins Parlament eingebracht.

«Eine Aufgabe des Staats»

«Nach meiner Überzeugung ist es die Aufgabe des Staats, sich um das Leben und die Gesundheit von Frauen zu kümmern, die sich entschlossen haben, eine Schwangerschaft abzubrechen», sagte Fernández zu diesem Anlass in einer Videobotschaft. Er bezog sich damit auf die mindestens 65 Argentinierinnen, die allein in den Jahren 2016 bis 2018 an den Folgen einer verpfuschten illegalen Abtreibung gestorben sind. 7262 Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren haben im selben Zeitraum Kinder zur Welt gebracht. Schwangerschaftsabbrüche sind bislang in Argentinien nur nach einer Vergewaltigung erlaubt, oder wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist.

Nicht einmal die Frauenbewegung, die sich seit Jahren für eine neue Abtreibungsgesetzgebung starkmacht und schon Hunderttausende auf die Strasse brachte, hat damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Zwar hatte Fernández im Wahlkampf damit geworben, er werde sich für Geschlechtergerechtigkeit und gegen jegliche sexuelle Diskriminierung einsetzen. Aber er erbte von Macri ein heruntergewirtschaftetes Land mit Hunderttausenden neuen Arbeitslosen.

Kaum war er drei Monate im Amt, brach die Coronapandemie herein. Da nützte auch eine der längsten und härtesten Ausgangssperren nichts. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt von der Hand in den Mund und muss, wie auch immer, auf der Strasse ein bisschen Geld verdienen. Jeder und jede Dreissigste hat sich bislang mit dem Virus angesteckt. Angesichts solch katastrophaler Zustände war selbst die Frauenbewegung davon ausgegangen, dass das Abtreibungsrecht erst einmal warten müsse.

Nie wieder Männerrunden

Doch Fernández nimmt sein Gleichstellungsprogramm ernst. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat er in den vergangenen Monaten ein paar Neuerungen verordnet. So dürfen Besprechungen mit dem Präsidenten keine reinen Männerrunden mehr sein. Mindestens ein Drittel der Anwesenden müssen Frauen oder LGBTQ-Menschen sein. Ein Prozent der öffentlichen Arbeitsplätze ist neuerdings für Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft reserviert.

Im Staatshaushalt sind für 2021 fünfzehn Prozent der Mittel Initiativen vorbehalten, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. Das kann von Programmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bis hin zur Integration von nicht formell arbeitenden Frauen ins staatliche Rentensystem gehen. «Mehr Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit sind Teil der Vision dieser Regierung», sagt Wirtschaftsminister Martín Guzmán. Aber eben noch eine Vision. Unter den neuen Arbeitslosen der jetzigen Krise haben die Frauen eine deutliche Mehrheit.

Dass die Stimmung umgeschlagen ist, weiss man auch im Senat. Die dort sitzenden ProvinzfürstInnen sind abhängig vom Geld der Zentralregierung, und deren Chef ist nun ein Befürworter des neuen Abtreibungsrechts. Noch in diesem Jahr soll über das Gesetz abgestimmt werden. Vieles deutet darauf hin, dass es wieder knapp werden wird, aber anders herum als beim ersten Mal. Dann wäre Argentinien das grösste und bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas mit einer Fristenregelung.

Die gibt es bislang nur in Kuba, Uruguay und Guyana. Es wäre ein grosser Sieg für die argentinische Frauenbewegung – und eine Hoffnung für andere Länder. Im benachbarten Chile ist es der Frauenbewegung erst vor drei Jahren gelungen, ein absolutes Abtreibungsverbot zu kippen und durch eine Indikationsregelung zu ersetzen. Warum sollte in Chile nicht möglich sein, was in Argentinien möglich ist?