Brecht Evens: Fabelwesen stürzen ab

Nr. 52 –

Sehnsucht nach Exzess? Der belgische Comiczeichner Brecht Evens erzählt in leuchtenden Farben von Verheissungen und Abgründen der Nacht.

Freudiges Taumeln durch die nächtliche Grossstadt: Panel aus Brecht Evens’ «Les Ri­goles». © Brecht Evens, Actes Sud, 2019. Courtesy Galerie Martel, Paris

Die Discokugel im oberen Raum wirkt so steril, man möchte meinen, sie sei ein treffender Witz auf diese Zeit und all die Sehnsüchte, die mit ihr einhergehen. Wir sitzen daheim, draussen dämmert es den ganzen Tag, und drinnen ist es nicht viel heller. Alles grau und grimmig, alles nicht so, wie es soll. Und dann leuchten die Farben so gemein im Cartoonmuseum Basel, lassen all die unerfüllten Träume schimmern: zu später Stunde am Tresen sitzen, im Glitzerfummel Nächte durchtanzen, in einer aufgekratzten Menge durch die Strassen wogen, vor der Clubhintertür in eine Ecke erbrechen.

Brecht Evens heisst der Mann, der die Sehnsüchte aufscheinen lässt – oder liesse: Die Museen sind, so wie alle anderen Kulturinstitutionen auch, seit dieser Woche wieder geschlossen. Im Cartoonmuseum wäre derzeit eine Einzelausstellung über den belgischen Comiczeichner zu sehen. Also alles noch ein wenig grauer als ohnehin schon – bleibt zu hoffen, dass die Ausstellung nach der Wiedereröffnung verlängert wird: Sie verschafft einen Überblick über gut zehn Jahre des Evens’schen Werks, gezeigt werden Originale aus verschiedenen Publikationen, ausserdem Auftragsarbeiten, Illustrationen und Skizzen, etwa für einen Pariser Modedesigner, für Plakate oder Plattencover.

Evens Zeichnungen sind voller Lust am Fantastischen, das zeigt sich etwa in den Strips, die er zwischen 2009 und 2011 in der belgischen Wochenzeitung «Brussel Deze Week» veröffentlichte. In «Idulfania» schlägt sich das gängige Märchenpersonal mit seinen in einem Märchenland eben alltäglichen Angelegenheiten herum. Der Basler Christoph-Merian-Verlag, der das Cartoonmuseum betreibt, hat die Strips anlässlich der Ausstellung zu einem leider einigermassen unpraktisch gestalteten Buch zusammengefasst. Trotzdem sehr vergnüglich, wie sich die Monster, Hexen und Zwerge in Missverständnisse verstricken, sich hintersinnen und einander, wenn es nicht anders geht, halt einfach mal auffressen.

Sich dem Rausch hingeben

So weit entfernt sind ihre Probleme von jenen der Figuren, die Evens in seinen anderen Werken durch nächtliche Grossstädte taumeln lässt, eigentlich nicht. Die leuchtenden Aquarelle im Debüt «Am falschen Ort» (2009) und in der neusten Graphic Novel, «Les Rigoles» (2018), geben kaum Hinweise auf eine bestimmte Zeit – das könnte Berlin in den Zwanzigern ebenso sein wie Paris oder Brüssel heute. Oder besser: Es sind ohnehin Fantasiestädte mit ihren in Abendrobe gewandeten Bohemiens, die wie Fabelwesen durch die Nachtclubs streifen. Ein romantischer Blick auf das Nachtleben ist das, natürlich. Trotzdem ist es schade, dass die begleitenden Texte im Museum nicht ohne Moral auskommen. Eine biedere Sicht, die da ausgebreitet wird, wenn etwa von einer «Generation, in der nichts wichtiger ist, als dazuzugehören» oder der «unterschwelligen Düsternis der hedonistischen Partywelt» geschrieben wird. Evens’ Blick hingegen bleibt immer fasziniert, auch wohlwollend, er verurteilt seine ProtagonistInnen nicht dafür, sich dem Rausch hinzugeben. Das High bleibt schliesslich interessant, selbst wenn man den Abgrund kennt – das könnte auch ohne Wertung einfach einmal festgestellt werden.

Denn sie sind schon da, die Abgründe. Der aktuellste Band, «Les Rigoles», ist tatsächlich düsterer als noch «Am falschen Ort», da ist Evens auch schon einige Jahre älter und womöglich müder. Viele durchgemachte Nächte zehren irgendwann an der Substanz. Auf einmal erscheinen in vielen Bildern Ambulanz und Polizei, und am nächsten Morgen sitzen die ProtagonistInnen traurig und verwirrt zwischen leeren Schnapsflaschen und Gläsern in ihrem Zimmer. Auch farblich dunkler gehalten als ältere Arbeiten, wirken diese Bilder nachdenklicher als jene früherer Jahre, trotz aller Faszination, die für das Nachtleben auch hier noch mitschwingt. «Les Rigoles» erzählt von drei Figuren, die sich im nächtlichen Brüssel verstricken, Exzess und Absturz immer nah beieinander. Evens wurde dafür am Comicfestival im französischen Angoulême mit dem Fauve d’Or geehrt, dem Spezialpreis der Jury für das beste Buch.

Die Möglichkeit aller Farben

Kleiner Trost, wenn man sich die Bücher nun nach Hause bestellt, statt sie im Museum anzusehen: Die vollständigen Geschichten wären dort ohnehin nicht zu bekommen, es fehlt den ausgestellten Originalen der Text. Dass seine Bilder daran kaum verlieren, spricht indes für Evens. Das liegt auch an der sorgfältigen Farbgebung, hübsch eingesetzt etwa in den Bildern aus dem Band «Panter» (2014): Die Welt von Christine ist bloss blau und rot; erst, als aus der Kommode in ihrem Kinderzimmer ein Panther erscheint, kommt gelb dazu – und damit die Möglichkeit aller Farben. Wie sich der Panther und Christine beim Twisterspiel verrenken oder mit dem Teddy Tee trinken, als wären sie im Wunderland, da ist zum Verstehen keine Textebene nötig. «Panter» ist Evens’ zärtlichstes Buch, in einer von Depression und Klinikaufenthalten geprägten Zeit entstanden – als hätte er nicht nur Christine, sondern auch sich selbst einen Hobbes, wie ihn einst Calvin hatte, zur Seite gestellt.

Brecht Evens: Idulfania. Christoph Merian Verlag. Basel 2020. 116 Seiten. 26 Franken