Erwachet!: Wasserweihnachtsmann

Nr. 52 –

Michelle Steinbeck applaudiert dem einflussreichsten Influencer

Der CEO eines milliardenschweren Immobilien- und Entertainmentunternehmens liess jüngst verlauten: «Es ist der Konsumismus, der uns Weihnachten gestohlen hat.»

Grosse Worte aus der Kehle einer der einflussreichsten Influencer der Welt. Seine Auftritte sind legendär: Vom Balkon seiner Mansion herab berät er stets ikonisch gestylt seine zahllosen FollowerInnen, die ihm an den Lippen hängen, ihn geradezu anbeten. Es gehört zu seinem Job, ihnen Sinn und Halt im Leben zu geben, besonders in schweren Zeiten. Er ist sich seiner Verantwortung bewusst und nicht zu schade, sein bewährtes saisonales Programm mit Aktuellem aufzupeppen: Covidcovidcovidcovidcovid, wie ein anderer, mittlerweile weniger einflussreicher Influencer mit lustig gelbem Toupet so eingängig zu schnarren pflegte.

So predigt er also vom Balkon: «Statt uns über das zu beklagen, was die Pandemie uns vorenthält, sollten wir etwas für die tun, die weniger haben. Nicht das x-te Geschenk für uns und unsere Freunde, stattdessen für eine bedürftige Person, an die niemand denkt.»

Bravo, rufe ich, Papa Francesco hats mal wieder auf den Punkt gebracht. Zwar followe ich weder ihm noch seinen Chefs und würde eher sagen, das Erwachsenwerden hat mir Weihnachten gestohlen. Aber der Kerngedanke zählt: Wie viele Menschen sind so viel schlimmer dran als ich? Zum Beispiel Ueli Maurers Kinder. Schliesslich wissen wir seit der letzten Pressekonferenz, dass ihn «ehrlich gesagt jeder Franken reut». Was wohl die zu Weihnachten bekommen? Übrig gebliebene Adventskalenderschokolade? Also Gutes tun und einmal «Teilen macht Spass», ein pädagogisch wertvolles Bilderbuch, ins Hause Maurer schicken. Aber nicht mit Amazon! Jeff Bezos musste ja im Vergleich zu unseren armen Kapitalisten heuer nicht zittern, dass ihm keine Dividenden ausgeschüttet würden und er fast bedürftig werden könnte. Denken wir an diesen schrecklichen Schrecken, kommt uns unser täglich Struggle doch gleich kleiner vor – was haben wir schon zu verlieren? Na also. Es ist schliesslich Weihnachten: Ab in die Apotheke, ein paar Bachblüten-Notfalltropfen festlich einpacken und in die Briefkästen der Ruedi Nosers und anderer Beinahverarmten in der Umgebung stecken. Schliesslich sind wir keine Unmenschen und wollen nicht, dass die reihum Herzchriesis kriegen, wenn mal wieder das Wort «Enteignung» fällt.

Ich gebe zu, auf den ersten Blick sieht es nicht danach aus, als würde der Klassenkampf vor der Tür stehen. Allerdings, und das wissen viele nicht, befinden wir uns gerade an der Schwelle zum neuen Zeitalter des Wassermanns. Rund um den Globus findet in diesem Moment eine Massenmeditation statt, sie läutet die alles umwälzende Veränderung ein. Und wer weiss: Vielleicht werden wir ja mitgerissen von den Schwingungen, wundersam umgepolt, und sehen plötzlich klar. Wie auf einem Ayahuasca-Trip überkommt uns eine kollektive Übelkeit, eine sich schwallartig steigernde Ablehnung gegen Hybridoffroader, Angussteaks, das Geschäft mit Waffen, Rohstoffen, Wohnraum. Und wir können nicht mehr anders und spülen eins nach dem andern das WC runter.

Ausser natürlich die Aluhüte, die verpennen das grosse Erwachen, weil sie so krass immun sind. Allen andern: Ein gelassenes Jahresende und eine Merry Crisis!

Michelle Steinbeck ist Autorin.