Corona Call (4): Unjum Mirza: «Die ‹Tube› ist voll von Niedriglöhnern»

Nr. 4 –

«Mit der Pandemie hat sich so ziemlich alles verändert. Ich bin seit zwanzig Jahren U-Bahn-Fahrer in London, seit fünf Jahren auf der Victoria Line, die von Brixton im Süden nach Walthamstow im Nordosten fährt. So wenige Fahrgäste wie während der Pandemie hatte die U-Bahn wohl zuletzt im 19. Jahrhundert.

Allerdings ist die heutige Situation eine andere als zu Beginn der Krise. Im ersten Lockdown nahm fast niemand mehr die ‹Tube›, die Zahl der Passagiere war um etwa 95 Prozent eingebrochen. Heute wird die U-Bahn wieder deutlich stärker genutzt, auch wenn es höchstens ein Fünftel des Normalbetriebs ist. Das ist sehr beunruhigend angesichts der hohen Fallzahlen in London und wenn man bedenkt, dass die neue Virusvariante viel ansteckender ist als die alte.

Wenn sich in der U-Bahn-Station Vauxhall am Montagmorgen die Türen öffnen, sprudeln aus jedem Zug Hunderte Bauarbeiter. Sie gehen trotz des Lockdowns zur Arbeit. Auch viele andere Strecken haben Knotenpunkte, an denen es morgens hektisch zu- und hergeht. Oft hört man das Argument, die Krise in London sei deshalb so gross, weil sich die Leute nicht an die Einschränkungen halten wollten. Das stimmt nicht. Vielmehr ist es so, dass die Regierung schlichtweg nicht genug finanzielle Hilfe bereitstellt, damit die Leute zu Hause bleiben können. Die ‹Tube› ist voll von Niedriglöhnern, die es sich nicht leisten können, nicht zur Arbeit zu gehen.

Vor einigen Wochen war es bitterkalt, und in den ersten paar Stunden meiner Frühschicht hatte ich praktisch nur Obdachlose als Passagiere. Sie fuhren die Victoria Line rauf und runter, um sich warm zu halten. Das sehe ich immer häufiger.

Die Sicherheit der Passagiere ist unsere erste Priorität. Seit Beginn der Pandemie versuchen wir Zugführerinnen und Zugführer, den Betrieb so coronatauglich wie möglich zu machen. Als die Londoner Transportbehörde im März ankündigte, als Notmassnahme vierzig U-Bahn-Stationen zu schliessen, dachten wir: Das ist doch völlig verkehrt. So bewirkt man bloss, dass andere Stationen überfüllt sind. Social Distancing funktioniert nur, wenn so viele Züge wie möglich fahren und gleichzeitig die Zahl der Passagiere gering gehalten wird. Auch auf Druck der Gewerkschaften wurde die Schliessung rasch rückgängig gemacht.

Wir versuchen, uns auch selbst zu schützen. Die Führerkabinen werden regelmässig gereinigt, nach jeder Fahrt wasche ich mir die Hände, in den Kantinen darf sich nur eine begrenzte Zahl von Leuten aufhalten. Auch in den Stationen bin ich vorsichtig. Wenn ich etwa an der Endstation Walthamstow ankomme, muss ich laut Fahrplan innerhalb von vier Minuten ans andere Ende des Zuges gehen, um ihn zurück nach Brixton zu fahren. Aber jetzt warte ich in meiner Kabine, bis das Perron leer ist, bevor ich mir auf der Toilette die Hände wasche, und erst dann geht es weiter. Wenn sich der Zug dadurch etwas verspätet, dann ist es eben so. Aber trotzdem sind viele meiner Kolleginnen und Kollegen an Covid-19 erkrankt – deutlich mehr als während der ersten Welle.

Ein Problem besteht darin, dass sich die sinkenden Passagierzahlen auf die Finanzen auswirken. Im Gegensatz zu vielen anderen Grossstädten finanziert sich der öffentliche Verkehr hier grösstenteils über Fahrkarten. Bislang konnten wir durch staatliche Rettungspakete über Wasser gehalten werden. Aber wir von der Gewerkschaft der Zugführerinnen und Zugführer befürchten, dass die Regierung die Krise nutzen wird, um Stellen abzubauen und schlechtere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Für diesen Fall bereiten wir uns bereits auf einen Streik vor: Wenn die Regierung irgendwas Krummes versucht, fährt in London keine U-Bahn mehr.»

Unjum Mirza (50) ist U-Bahn-Fahrer und Vertreter der Zugführergewerkschaft ASLEF für die Victoria Line.