Kost und Logis: Staubkorn, Krähe und zurück

Nr. 12 –

Bettina Dyttrich denkt an Vögel und den Weltuntergang

«Wenn jetzt die Erika in der Pause von einem Auto überfahren wird, ist das für den Fortbestand des Homo sapiens egal.» So oder ähnlich sagte es unser Biologielehrer. Charmant. Der Physiklehrer wirkte entrückt und sprach über astronomische Zeiträume, die für ihn das ganze menschliche Tun relativierten.

Es half nicht weiter.

Ich war sechzehn, politisch interessiert und wütend, leider fast die Einzige in diesem Zustand an meiner Schule. Heute ist das anders, heute empören sich Zwölfjährige über Rassismus und argumentieren virtuos gegen das Verhüllungsverbot, und Sechzehnjährige sitzen auf dem Berner Waisenhausplatz und noch etwa zwanzig anderen Plätzen in diesem Land und rufen «Climate justice!». Letzten Freitag wieder, endlich. In Bern wies die Polizei die Leute einzeln weg, obwohl sie Masken trugen und in Kleinstgruppen sassen – die Kundgebung war nur für fünfzehn Personen bewilligt. (Liebe Behörden, das könnte man auch während Corona weniger absurd regeln.)

In etwa fünf Milliarden Jahren wird sich die Sonne ausdehnen, zum Roten Riesen werden und alles Leben auf der Erde verdampfen lassen. Das waren so die Zeitdimensionen, in denen sich mein Physiklehrer bewegte. Anschaulich dargestellt ist es in der Weltuntergangsausstellung im Naturhistorischen Museum Bern: Ein paar Hundert Glühbirnen an der Decke beginnen zu leuchten, zuerst nur die innersten, dann breitet sich das Licht aus, bis der ganze Raum glüht. Es sieht schön aus.

Irgendwann ist das Leben auf der Erde also sowieso vorbei. Relativiert das, was gerade mit dem Klima passiert? Ist es tröstlich? Es kann tatsächlich helfen, in grossen Zeiträumen zu denken, ganz weit wegzuzoomen und sich wie ein Staubkorn zu fühlen. Gelassenheit ist gut, aber wann kippt gelassen in gleichgültig? Ich weiss es immer noch nicht. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die ferne Zukunft die Gegenwart relativiert. Dass alle irgendwann sterben, macht einen gewaltsamen Tod auch nicht erträglicher.

Seit einiger Zeit fallen mir Vögel auf. Über hässlichen Ostschweizer Kleinstädten drehen Milane ihre Kreise und fühlen sich offenbar wohl da. Die Rotkehlchen, in den kältesten Tagen aufgeplustert wie kleine Bälle, sehen so verletzlich aus, dass ich Angst um sie habe. Im Malcantone übt eine Singdrossel neue Motive kurz vor der Nacht. Unter der Mühleberg-Staumauer beschimpft ein Fischer einen Kormoran. Und die Krähen sind überall. Auf sie bin ich neidisch.

Ich wäre gern eine Krähe. Sie muss sich nicht mit absurden Wirtschaftssystemen herumschlagen. Sie wird immer Futter finden. Sie ist viel besser auf die Zukunft vorbereitet als wir.

Ja, es hilft, manchmal ein Staubkorn oder eine Krähe zu sein. Es hilft, um danach zurückzuzoomen zu den Menschen. Und sich mit unseren komplizierten Problemen herumzuschlagen, während die Krähen über uns lachen.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.