US-Abzug aus Afghanistan: Das Interesse ist verflogen, die Ignoranz bleibt

Nr. 33 –

Schliesslich war nur das Tempo überraschend, mit dem die Taliban Afghanistan eroberten. Dass der Krieg verloren war, wussten die westlichen Verantwortlichen längst. Die eigene Schuld am Scheitern leugnen sie weiter.

«Womöglich wird es wie beim letzten Mal sein. Da nahmen sie über Nacht Kabul ein», erzählte Ahmad Dschawed, dreissig Jahre alt, am Samstag. Als die militant-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt 1996 eroberten, war Dschawed ein Kind. An jenen Morgen kann er sich dennoch gut erinnern: Plötzlich waren die Kämpfer da, während die Vertreter der Mudschaheddin-Regierung, die sich zuvor jahrelang gegenseitig bekriegt hatten, geflohen waren. Nun, knapp zwanzig Jahre nach Beginn der Nato-Besatzung in Afghanistan, drohte sich dieses Szenario zu wiederholen. «Die letzten Tage haben deutlich gemacht, dass sie bald hier sein werden», sagte Dschawed am Telefon.

Kurz darauf wurde seine Vorhersage bestätigt. Nachdem die Taliban in den Tagen zuvor alle wichtigen Provinzhauptstädte hatten erobern können, marschierten sie am Sonntag auch in Kabul ein. In vielen Fällen räumten Armee und Polizei ihre Posten, bereits bevor die Aufständischen die Stadt betraten. Zeitgleich verliess Präsident Aschraf Ghani das Land mitsamt seiner Entourage, mutmasslich in Richtung Usbekistan. Er verhielt sich dabei wie ein neokolonialer Statthalter – und als solcher wurde er in den letzten Jahren von vielen AfghanInnen bezeichnet, nicht nur von den Taliban. Einigen Berichten zufolge sollen Ghanis Männer Taschen voller Bargeld mitgenommen haben. Es war im Übrigen auch Ghani, der vor wenigen Jahren verlauten liess, keine Sympathien für afghanische Geflüchtete im Ausland zu hegen. Sie würden ohnehin nur als Tellerwäscher im Westen enden. Nach Ghanis Flucht nahmen die Taliban den Präsidentenpalast ein und posierten vor seinem Schreibtisch.

Analysten fehlen die Worte

Die Lage in Kabul spitzte sich in der Folge weiter zu. Tausende Menschen strömten zum Flughafen, wo US-Truppen mit der Evakuierung amerikanischer StaatsbürgerInnen beschäftigt waren. Das Chaos nahm dort auch zum Wochenbeginn kein Ende. Auf Videobildern ist zu sehen, wie verzweifelte Menschen sich an einen US-Flieger klammern, als dieser abhebt. Währenddessen schossen US-Soldaten in die Menge. «Ein Verwandter von mir wurde getötet. Er war Arzt», erzählt Sangar Paykhar, ein holländisch-afghanischer Journalist und Podcaster. Sieben Menschen sollen am Montag auf dem Flughafengelände ums Leben gekommen sein. Die afghanisch-amerikanische Autorin und Aktivistin Nadia Hashimi berichtet, dass selbst manchen US-AfghanInnen ein Platz im Flugzeug verwehrt worden sei.

Die jüngsten Szenen in Kabul haben stärker denn je deutlich gemacht, dass der westliche Einsatz in Afghanistan gescheitert ist. Während seiner Rede am Montag erwähnte US-Präsident Joe Biden – der als Oberbefehlshaber das Militär abgezogen hat – kein einziges Mal jene AfghanInnen, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch den amerikanischen «War on Terror» getötet worden waren. Stattdessen waren seine Worte abermals von Realitätsverweigerung und Ignoranz geprägt. Die offensichtlichen Gewinner dieses Krieges sitzen nicht im Weissen Haus, sondern in Kabul. So stark wie jetzt waren die Taliban noch nie; allein in den letzten Tagen und Wochen haben sie in grossem Umfang hochtechnologisches Kriegsgerät aus US-amerikanischer Produktion erbeutet. Abgesehen von der Provinz Pandschschir nördlich von Kabul, die stets für ihren Widerstand gegen die Taliban bekannt war, kontrollieren die Extremisten wieder ganz Afghanistan. Hinzu kommen ihre politischen Fortschritte auf der internationalen Bühne, an denen sie in den letzten Jahren arbeiteten, insbesondere in Bezug auf das Nachbarland China.

Zahlreiche Analysen und Prognosen bezüglich einer Machtübernahme durch die Taliban mussten in den letzten Wochen mehrfach korrigiert werden. Noch am Samstag ging etwa der US-Geheimdienst CIA davon aus, dass Kabul in den nächsten dreissig bis neunzig Tagen erobert werden könnte. Am Ende geschah dies innerhalb von 24 Stunden. Selbst bekannten US-Analysten in Washington fehlten aufgrund der jüngsten Ereignisse teils die Worte. Bill Roggio von der rechtskonservativen US-Denkfabrik «Foundation for Defense of Democracies» bezeichnete den erfolgreichen Vormarsch der Taliban als eines der «grössten geheimdienstlichen Versagen der letzten Jahrzehnte». Laut Roggio sei die ausgeklügelte Kriegsstrategie der Taliban «verdammt brillant» gewesen. Die Extremisten fokussierten sich anfangs auf den Norden Afghanistans, bevor sie landesweit weitere Städte einnahmen.

Korrupte Verbündete

Es gibt mehrere Gründe, warum all dies passieren konnte. Viele davon wurden jahrelang verdrängt und ignoriert – nicht nur, weil die kriegsführenden Länder das eigene Gesicht wahren wollten, sondern auch, weil die EntscheidungsträgerInnen Afghanistan nach all den Jahren immer noch nicht kannten. Praktisch alle Distrikte rund um jene Provinzhauptstädte, die vor Kabul fielen, werden bereits seit Jahren von den Taliban kontrolliert. Sie hatten sich hier festgesetzt und im Schatten agiert und regiert. In diesen ländlichen Regionen konnten die Extremisten früh Fuss fassen, unter anderem aufgrund der riesigen Korruption in der Hauptstadt wie auch wegen der zahlreichen Militäroperationen der Nato und ihrer afghanischen Verbündeten. Drohnenangriffe und brutale nächtliche Razzien verursachten regelmässig zahlreiche zivile Opfer in den afghanischen Dörfern. Viele Hinterbliebene schlossen sich den Taliban in irgendeiner Form an.

Mit derartigen Realitäten wollten sich die Verantwortlichen aber nicht auseinandersetzen. Stattdessen fokussierten sie sich auf vermeintliche Errungenschaften: Man sprach von Demokratie, obwohl in den letzten zwanzig Jahren kein einziger demokratischer Machttransfer stattfand. Der Grund hierfür waren in erster Linie jene korrupten Eliten, die in Kabul von den USA an die Macht gebracht worden waren. Männer wie der frühere Präsident Hamid Karzai oder der nun geflüchtete Aschraf Ghani höhlten das neue System für ihre eigenen Zwecke aus und machten von Wahlfälschung Gebrauch, um an die Macht zu kommen. Ähnlich verhielten sich andere innerafghanische Akteure, darunter etwa zahlreiche bekannte Kriegsfürsten und Drogenbarone, die zu den engsten Verbündeten des Westens am Hindukusch wurden. An den ausländischen Hilfsgeldern bereicherten sie sich persönlich, um dann Milliarden an Dollars ins Ausland zu schaffen. Gleichzeitig gehörten sie auch zu den grössten Kriegsprofiteuren. Sie fingierten Anschläge auf Nato-Truppen und schufen eigene Sicherheitsunternehmen. Im Nachhinein konnten sie aufgrund der vermeintlichen Terrorgefahr für diese dann lukrative Verträge unterzeichnen.

Details unter Verschluss

Spätestens seit Ende 2019 ist bekannt, dass man in Washington und anderswo über all diese Fehlentwicklungen Bescheid wusste. Damals veröffentlichte die «Washington Post» die «Afghanistan Papers», in denen rund 400 hochrangige US-Offizielle ihr Versagen in Afghanistan mehr oder weniger zugaben. Die entsprechenden Details waren jahrelang unter Verschluss gehalten worden.

Doch auch darüber will heute niemand sprechen. Stattdessen wird selbstgerecht der Eindruck vermittelt, dass die Taliban Afghanistan und den Westen aus dem Nichts heraus überrumpelt hätten. Man habe mit bestem Wissen und Gewissen versucht, einen geordneten Abzug zu vollziehen. Eine Darstellung, die jetzt vor den Augen der Weltöffentlichkeit widerlegt wurde. Nach einer zwanzigjährigen Fehlintervention, die Hunderttausende AfghanInnen das Leben gekostet und Millionen zu Geflüchteten gemacht und in die Armut getrieben hat, verlor der Westen nicht nur sein Interesse an Afghanistan, sondern er fühlt sich für die Misere nicht einmal mitverantwortlich. «Die sind eben so. Das ist nicht unsere Schuld», lautet der kulturrelativistische Tenor. Besonders in diesen Tagen hallt er laut.

Bundesrat blockt ab

Sofort 10 000 Geflüchtete aufnehmen: Das fordern SP und Grüne nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga scheiterte am Montag in der Aussenpolitischen Kommission jedoch mit dem entsprechenden Antrag. Die Grünen wollen zudem unbürokratischen Familiennachzug für bereits in der Schweiz lebende AfghanInnen.

Appelle an den Bundesrat kommen auch aus der Asylbewegung. Alle AfghanInnen sollten mindestens eine vorläufige Aufnahme erhalten, negative Entscheide müssten neu beurteilt werden, schreibt das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit. Das Botschaftsasyl per Notrecht wieder einzuführen, fordern Solidarité sans frontières und die Demokratischen Jurist*innen.

Der Bundesrat vertrat am Mittwoch aber eine harte Haltung. Priorität habe die Evakuierung von etwa 230 lokalen MitarbeiterInnen. Eine Aufnahme Geflüchteter sei nicht möglich, dafür sei eine «Bedarfsanalyse» des UNHCR nötig; man müsse «realistisch bleiben», so Justizministerin Karin Keller-Sutter.