Lee «Scratch» Perry (1936–2021): Das Echo des Propheten

Nr. 35 –

Die Kunst des Reggae-Pioniers Lee «Scratch» Perry, der lange in der Schweiz wohnte, prägte die halbe Popmoderne. Und löste nebenbei die Zürcher Jugendunruhen mit aus.

Keiner hat das Studio gerockt wie er: Lee «Scratch» Perry. Foto: Lukas Wassmann

Reggae sei wie ein Hund, der sich in ein Stück Stoff verbeisst und nicht mehr loslässt, sagt Lee «Scratch» Perry im Dokumentarfilm «The Upsetter» von 2008. Nun erzählte der 1936 im Westen Jamaikas geborene Produzent und Sänger öfter Dinge, die nicht sofort einleuchteten. Zumindest westlichen Geistern, die mit der Spiritualität der afrodiasporischen Yoruba-Kultur nicht vertraut sind, die Perry von seiner Mutter erbte, oder mit der Religion der Rastafari. Der Rumpegel und das viele Gras trugen nicht dazu bei, glasklar und unvernebelt zu kommunizieren. Reggae ist allerdings auch keine britische Benimmschule, sondern ein Versuch, sich von «Babylon» zu lösen, wie das koloniale Erbe des Empires in Jamaika manchmal genannt wird.

Boom aus dem Bassverstärker

Dass der Sound trotz seiner unterschwelligen Gewalt sanft klingt und den Körper zu einem torkelnden Tanz animiert, ist seine Stärke, nicht seine Schwäche. Und kaum einer hat diesen Sound – erst mit Reggae, dann mit Dub – so folgenreich geprägt wie Lee «Scratch» Perry. Wie viel Hitze im Cool des Reggae steckt, wie viel Aggression und Kraft, lässt sich mit der Produktionskunst von Perry im Studio erklären, mit dem Wettbewerb im wachsenden Musikmarkt Jamaikas seit den sechziger Jahren und natürlich mit der politischen Situation in Jamaika. Und die Folgen dieser unterschwelligen Wucht waren selbst in Zürich spürbar. Aber von vorne.

Auf «People Funny Boy» von 1968 singt Perry selbst und disst einen Studioboss, der auf dem Rücken seiner Kunst zu mehr Geld gekommen sei. Das Stück wird ein Hit und gilt als eines der ersten Beispiele für Reggae. Damit beginnt in Jamaika die Emanzipation vom stärker US-amerikanisch inspirierten Rocksteady. Das per Tonband eingespielte Babyweinen auf «People Funny Boy» sei das erste Sample der Popgeschichte, ist mitunter zu lesen. Das ist zu viel der mythischen Verehrung, denn Tonbandquatsch machten etwa die Beatles bereits 1966, weil sie halt bekifft Karlheinz Stockhausen hörten. Der Bass klingt aber schon auf «People Funny Boy» lauter als bisher, selbst wenn die Nummer noch lüpfig rollt. Da ist die Unabhängigkeit der kleinen, musikalisch beispiellos einflussreichen Insel südlich von Kuba erst sechs Jahre alt.

Perry selbst ist Anfang dreissig und hat zehn Jahre Erfahrung als Produzent, Komponist und Sänger in den drei wichtigsten Studios von Kingston. Der nächste Boom kommt aus dem Bassverstärker und von der Macht zunehmend gedrosselter Beats: Perry bremst das Tempo, schiebt den Tiefenregler hoch und versetzt komische Geräusche mit Echo. Er lässt im Aufnahmeraum Kassettenrekorder mitlaufen und kopiert von einer Spur auf die andere, keiner rockt das Studio so wie er. Reggae klingt nun unter der coolen Oberfläche ähnlich angespannt wie die Strassenpartys, an denen er gespielt wird. Das tiefe Grollen unter der Gemütlichkeit: blanker Realismus. Dieser Sound und Perrys Produktionskunst begründen um 1970 die Karriere eines jungen Sängers, zu hören etwa im Lied «Duppy Conqueror». Die Band heisst The Wailers, der Sänger Bob Marley.

Auch wenn die Zusammenarbeit mit dem Reggae-Superstar bald zerbricht, trägt Marleys Sound die Signatur von Perry weiter. Die folgenreichsten Innovationen und Alben gelingen Perry aber erst danach, im Verlauf der siebziger Jahre während der Regierungszeit von Premierminister Michael Manley – der eine Art «Sozialismus light» probierte –, die von Ganggewalt von allen politischen Seiten geprägt war. Ab 1973 nahm Perry zu Hause auf, in seinem kleinen, legendären Black Ark Studio, und befand sich im Zentrum lokaler Konflikte.

Alle wollten Schutzgeld

Zwei grosse Alben zeugen von dieser so produktiven wie politisch ungemütlichen Zeit: Perrys eigene Platte mit seiner Band The Upsetters, «Super Ape» von 1976, und seine Produktion für den im betörendsten Falsett singenden Junior Murvin, «Police & Thieves», ein Jahr später. Alle wollten Schutzgeld, die Polizei wie die Gangs. Und der Sound klang stets entrückter, wie von ganz weit her. Die Bläser wehen in Hallschlaufen durch die Klanglandschaft, ein Echo auf das ferne Paradies. Bass und Schlagzeug sind die Herrscher der Zeit. Sogar die Stimmen verschwinden zwischenzeitlich oder tauchen bloss in Fetzen auf. Das ist die Geburt von Dub: Reggae betritt das Zeitalter des Remix, denn zu Dubplatten können die DJs oder Selectors, wie sie in Jamaika heissen, selbst etwas erzählen oder «toasten», wie man auf der Insel sagt. Die Welt nennt es rappen, seit jamaikanische Auswanderer die Kultur nach New York City in den Stadtteil Bronx brachten. Perry ist auch ein Ahnherr des Hip-Hops.

Als wären seine Verdienste für Reggae, Dub und Hip-Hop nicht ausreichend, hat Perry auch im Punk seine Spuren hinterlassen. Das ist wohl die erstaunlichste Verbindung: Die hallgetränkte, spirituelle Soundavantgarde aus einem karibischen Studio trifft auf den klanglich furztrockenen und nihilistischen Punk. Da es anfänglich bei Partys zu wenig Punkplatten gab, haben Leute wie Don Letts, DJ und Kleiderverkäufer mit jamaikanischen Eltern, die Pausen mit Dub Reggae gefüllt. The Clash coverten den von Perry produzierten Song «Police & Thieves» und gingen dafür sogar mit ihm ins Studio (wie Paul und Linda McCartney übrigens auch). Punk genoss die Tiefe des Dub, die er sonst den Dingen absprach und stattdessen eine Ästhetik des Klischees pflegte. Aber es verband sie mehr als die Anziehung der Gegensätze: die Wucht, die Lust auf Veränderung, der Widerstand gegen Babylon – in Jamaika gegen die Kolonialmacht, in England gegen die Eltern.

Wie explosiv Punk und Reggae zusammenkamen, konnte die Schweiz in Zürich am Abend des 30. Mai 1980 sehen. Die meist jugendlichen DemonstrantInnen kamen direkt von einem Konzert von Bob Marley im Norden der Stadt runter an den See vor das Opernhaus. Die sogenannten Opernhauskrawalle markierten den Beginn der Zürcher Jugendunruhen. Reggae war nicht der Anlass, es ging um öffentlichen Raum und eine andere Kulturpolitik. Doch der Sound von Marley, von Perry mitentworfen, hatte die Kraft, den Funken zu entzünden. Zürich brannte, die Hunde bissen.

Kein Hall im Schnee

Lee Perry hatte da sein Lebenswerk nach zwanzig Jahren im Prinzip beendet, alles in der Folge ist berechtigte Ehrerbietung in aller Welt, mehr ist nach Perrys Impulsen über Hip-Hop hinaus bis zu Ambient und Techno nicht nötig. Die Siebziger endeten im Chaos, für das Land und auch für Perrys Studio, das er vermutlich selbst niederbrannte. Es lief nicht mehr mit der britischen Plattenfirma Island Records, das Studio war ein Hangout für Bewunderer wie Bewaffnete. Und Kokain überschwemmte Jamaika, das Drehkreuz der Kartelle wurde. Es floh, wer konnte, die Diaspora verteilte die Besten nach Florida, New York, London. Perry landete nach einer Odyssee von knapp zehn Jahren an der Zürcher Goldküste und heiratete Mireille Campbell Rüegg, die ehemalige Sexarbeiterin und erste öffentliche Domina des Schweizer Boulevards.

Es gibt Bewegtbilder von Lee Perry, wie er durch tiefen Schnee stapft, vermutlich in Einsiedeln, wo die Familie Perry-Campbell Rüegg später hinzog. Wenn er auch nicht selbst aus der Kälte kam, liebte er bestimmt den Klang von Schnee, der den Hall schluckt. Denn als Prophet des Hall-all-alles wusste Perry, dass nicht jedes Instrument im Echo baden darf. Am besten klingt der Hall, wenn er mit einem trockenen Gegenpart kontrastieren kann, mit dem Bass etwa. Im Himmel haben sie gerade viel zu tun, die grossen Boxen auf den Wolken zu balancieren, weil Lee «Scratch» Perry in seiner Heimat Westjamaika im Alter von 85 Jahren gestorben ist.