Bühne: Das Sekret des Theaters sucht den Weg ans Licht

Nr. 40 –

Seit einiger Zeit spuken die Geister von Machtmissbrauch durch die Schauspielhäuser. Die Kunst reagiert in diesem Theaterherbst mit viel Gefühligkeit und nackter Haut.

Safe Space oder schmerzhafte Aushandlung mit Andersdenkenden? «Mimikry: Mater Dolorosa Bleed» stellt am «Neumarkt» in Zürich die Fragen, die auch den Theaterbetrieb heimsuchen. FOTO: PHILIP FROWEIN

Ist das ein Dialog aus einem Schauspielprojekt zum notwendigen Wandel in den Theatern? Oder hat sich das ein alter weisser Mann ausgedacht, der sich über junge soziale Bewegungen lustig machen will? Oder ist das bloss ein Leak aus einem Unternehmen, das ernsthaft an sich selbst arbeitet? Raten Sie mit, hier kommt der Ausschnitt:

Chef: «Ideell fühle ich mich dir auf jeden Fall nah. Und wir verbringen ja auch echt viel Zeit miteinander. Ich empfinde stark, dass du weisst, was es heisst, diese Institution mitzugestalten.»

Untergebene: «Das ist mein Pech, dass ich mich interessiere für den ganzen Struggle und wie man dann dieses oder jenes Problem in der Institution löst. Ich finde es sehr viel schwieriger, mich einzusetzen für die Regisseurin in mir, weil das eine sehr verletzliche, fragile Position ist.»

Später räsoniert der Chef darüber, dass er sich noch immer nicht als Chef fühlt und eine andere, weniger scheffige Körperlichkeit hat als alle Chefs, mit denen er jemals zusammengearbeitet hat. Aber, so viel Selbstkritik muss sein: «Ich mache Fehler. Ich mache nicht alle glücklich.» Die Untergebene ist aber zufrieden: «Von dem her hoffe ich, dass du deine Körperlichkeit jetzt nicht änderst, weil das ist doch auch mal schön, dass jemand ein Stereotyp bricht.»

Na?

Warten wir noch ein wenig mit der Auflösung der Autor:innenschaft dieser betrieblichen Gefühlsäusserung. Und stellen fest im zweiten Coronaherbst: Der empfindsame Chef und die fragile Regisseurin sind zwei in der Kulturbranche rasant aufgestiegene Stereotype. Es gibt keine Kunsträume mehr mit Macher:innen unter 35, die nicht an der Schnittstelle von Vulnerabilität und noch etwas arbeiten, meistens Intersektionalität. Auf Deutsch: Es geht darum, sich selbst verletzlich zu zeigen und damit auch empathisch für andere und ihre Verletzungen zu sein, seien es sexistische, rassistische, ableistische (wenn es um Behinderungen geht) oder klassistische (wenn es um soziale Benachteiligung geht). Dagegen ist wirklich nichts einzuwenden. Es bestimmt allerdings nicht nur die Gestaltung der Kulturarbeit, sondern auch ihren Inhalt. Die Folge: erhöhte Klischeebereitschaft und in einzelnen Fällen die Verschleierung realer Machtverhältnisse, wenn alle kuscheln und alles privater Schmerz ist. Das zeigt sich auf der Bühne, aber auch dahinter.

Der Dialog – hier kommt die Auflösung – ist keine Satire über die Angst weisser Chefmänner, die keine Chefmänner mehr sein möchten, weil die unter Generalverdacht stehen, Arschlöcher zu sein. Er stammt aus der Saisonvorschau des Zürcher Schauspielhauses, es sprechen Benjamin von Blomberg und Suna Gürler. Blomberg ist auf dem Papier Kointendant des Hauses, im Alltag kontrolliert er das Haus stärker als sein regieführender Kollege Nicolas Stemann. Gürler ist eine Basler Regisseurin, die in Zürich viel beachtete Jugendarbeit macht, weil sie im Schauspielhaus nicht so abgetrennt wird wie in den meisten andern Theatern.

Phrasen, die nach Anwalt klingen

Es ist ein achtsames Gespräch im hierarchischen Gefälle, das der Hierarchie attestiert, ganz okay zu sein, aber nur hier und in diesem Fall. Viele weitere Gespräche folgen, die alle dasselbe Ziel haben: zu zeigen, dass man alle Themen auf dem Schirm hat. Institutionenkritik ist das Thema der Saison.

Seit das Publikum fehlt oder erst spärlich wieder erscheinen darf, wird in der Theaterwelt sicherlich zu Recht intern gespürt und selbstkritisiert. Eine Begleiterscheinung dieser Kritik ist aber auch die Angst, einen Fehler zu machen und in einen Shitstorm zu geraten. Hinter vorgehaltener Hand berichten selbst sensible Führungspersonen von schlaflosen Nächten, weil sie fürchten, in ihren endlich ein bisschen diversen Belegschaften könnte jemand einen Vorwurf gegen sie erheben. Künstler:innen sind empfindsamere Menschen als Langstreckenpilot:innen. Aber ihre Sorge ist nicht ganz unberechtigt: Denn wie stichhaltig die vielen bekannten Fälle von Machtmissbrauch an Schauspielhäusern im Einzelnen sind, wurde selten von der jeweils zuständigen Kulturbehörde zu Ende geklärt und schon gar nicht juristisch aufgearbeitet. Die mal mehr, mal weniger freiwilligen Rücktritte, die gewundenen oder höchstens halben Schuldeingeständnisse kamen einer richtigen Aufarbeitung meistens zuvor.

Die als Recherchen angepriesenen Texte, insbesondere zu den Fällen in Berlin, waren in Wahrheit Leaks: Die Betroffenen haben sich gemeldet, man hat ihnen zugehört. Das ist ein Fortschritt, aber erst ein Anfang. Denn es gibt nun viel öffentliches Bewusstsein über die Problemlage, aber wenig Wissen über den genauen Ablauf der Fälle. Es reicht, pauschal zu schreiben, dass «all diese Kunst» unter schrecklichen Bedingungen entstehe, wie unlängst in der «Süddeutschen Zeitung» zu lesen war. Wer diese Bedingungen recherchieren will, wird oft als Teil des Problems behandelt: Fragen stellen bei Betroffenen ist nicht vorgesehen im Skript der bedingungslosen Solidarität, und die mutmasslichen Täter:innen schweigen oder verstecken sich hinter Phrasen, die nach Anwalt klingen.

Das heisst nicht, dass die Theaterwelt kein strukturelles Problem hätte. Es heisst aber, dass die Geschichten offenbar nicht mehr genau erzählt werden müssen, um dennoch Konsequenzen zu haben.

Alles ist problematisch

Als die tägliche Arbeit vor Ort nicht mehr im Vordergrund stand, weil die Theater erst im Frühling und im Herbst 2020 gleich noch einmal schliessen mussten, öffneten sich die Ventile. Erst in der räumlichen Distanz – und der intensiven digitalen Verbundenheit – trauten sich viele Menschen mit Diskriminierungserfahrung in den Theatern an die Öffentlichkeit.

Die Fragen, die nun schnell mehr Aufmerksamkeit auf sich zogen als jede Premiere: ob Intendant:innen jähzornig rumgeschrien und Leute erniedrigt haben wie Peter Spuhler in Karlsruhe, ein anderer den Frauen auf den Busen gestarrt habe und überhaupt körperlich zu nahe gekommen sei wie Klaus Dörr an der Berliner Volksbühne, von sexistischen Bemerkungen über alternde Frauen einmal abgesehen, und auch ob der, nun ja: patriarchale Führungsstil einer Frau wie Shermin Langhoff am Gorki in Berlin eine Verlängerung ihres Vertrags rechtfertige, trotz laufender Untersuchungen in der Kulturbehörde? Und als im Schauspiel Düsseldorf ein Fall von Rassismus in den Proben diskutiert wurde, bestand die Berichterstattung über mehrere Tage hinweg vor allem aus Zusammenfassungen der Instagram-Posts, die der mutmasslich Diskriminierte veröffentlichte.

Dabei ist keiner der Fälle bislang strafrechtlich relevant, und wenig ist konkret geklärt. Spuhler in Karlsruhe und Dörr in Berlin mussten gehen, Langhoff am Gorki und Wilfried Schulz in Düsseldorf haben bislang die Diskussionen im Amt überlebt. Ob jeweils zu Recht, bleibt in allen vier Fällen unklar. Diese unprofessionelle Praxis zeugt nicht nur von der Angst, öffentlich darüber zu sprechen. Sie erzeugt auch immer neue Angst.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Sprache vieles zu Phrasenbrei haut, wenn soziale Bewegungen so rasch in die Institutionen – hier: Theater, Medien – wandern wie heute. Das «System», der «Kommerz» und auch die «Traurigkeit» zogen bereits mit den Achtundsechziger:innen in die Kultur ein (vom marxistischen Vokabular wollen wir nicht reden). Ab den späten Achtzigern war bei den postmodern Geschulten dann plötzlich von «Phantasmen», «Rhizomen», von «Simulationen» und vom «Realen» die Rede, in einigen Programmheften und vereinzelt auch in Kritiken. Die Postmodernen waren aber eine zu vernachlässigende Minderheit im Theater und im konservativen Mainstream der Theaterkritik – ganz im Gegensatz zu den Linken der siebziger Jahre und den Woken der Gegenwart, die ihren Machtanspruch viel entschiedener formulierten und formulieren. Rhetorisch eint die Alten wie die Jungen ein gemeinsamer Lieblingsbegriff: «problematisch».

Problematisch ist damals wie heute die «Struktur», also grundsätzlich alles. Hilfreich zur Analyse ist das nur insofern, als schlechterdings alles im Argen liegt, auch und gerade wenn man im Theater über wenig anderes spricht. Okay, ausser man ist weiss, männlich und über fünfzig und regiert zum Beispiel die Beliebtheitscharts beim Onlineportal «Nachtkritik». Doch die etwas jüngere, etwas diversere Kunst und alles, was sich dafür halten möchte, reagiert heftig auf den Umbruch, der vermutlich umfassender werden wird als jener von 1968.

Heilung heisst Kuscheln

Mein Theaterherbst in Berlin und auf Besuch in Zürich jedenfalls markiert eine auch ästhetische Wende. Die vielen Produktionen, in denen es von Umarmungen, extremen Gefühlen, von Achtsamkeit und Awareness, nun ja: von Vulnerabilität und Empowerment nur so wimmelt, sind alle auf zentralen Bühnen zu sehen, nicht in Nebenprogrammen oder den schlechter finanzierten Produktionshäusern. Emotionen, Tränen, Körper, Sex, immer als Safe Space: im Theater Neumarkt, im Gorki-Theater, an der Volksbühne und der Ruhrtriennale, im Schauspielhaus Zürich.

Etwas irritierend wirkt es allerdings, wenn die bis vor kurzem in Zürich arbeitende Regisseurin Leonie Böhm im Berliner Gorki-Theater eine radikal achtsame Umschrift von Ibsens Emanzipationsstück «Nora oder Ein Puppenheim» zeigt. Ausgerechnet in dem Haus, das wegen der nicht sehr achtsamen Intendantin Shermin Langhoff in die Schlagzeilen geriet, inszeniert Böhm den Klassiker als Emo-Workshop mit zwei Schauspielerinnen und einem Mann an der Harfe. Geht doch, alles supersensibel hier am Haus. Warum man das Sozialdrama über eine Frau, die vor 150 Jahren aus der bürgerlich-patriarchalen Enge und ihrer Lebenslüge flieht, heute noch spielen soll, interessieren Böhm und Co. nicht, es bleiben nur ein paar Gassenhauer des Textes stehen. Es geht einzig um den privaten Schmerz aller Figuren und wie man ihn überwindet: mit Achtsamkeit, mit Berührungen, mit Umarmungen. Heilung heisst Kuscheln.

Es riecht also nach teurem Workshop, nur manchmal nach seiner leisen Parodie, was vor allem am verflirrten Spiel von Julia Riedler liegt. Wenn sie «extreme Gefühle» sagt, setzt sie ein Ausrufezeichen dahinter, das bewusst auch die Komik in Kauf nimmt. Das sind einsame Momente. Interessant ist aber, warum so ein Empfindsamkeitstheater nicht mehr abwegig erscheint und trotz potenzieller Peinlichkeit präzise die Zeit fühlt: weil das Private wieder politisch wird. Auch das ist ein Anschluss an 1968, aber vor anderem Hintergrund. Die Verschiebung von der Privatsphäre in die Öffentlichkeit findet mitten im technologischen Sturm statt, der uns noch immer den Verstand raubt.

Utopie in der Töchterschule

Vor ein paar Wochen ging ein Video viral, in dem eine junge Klimaaktivistin zwei Minuten lang weint und erzählt, warum sie nicht mehr kann. Für Ältere war dieser Einsatz der privaten Emotion verstörend – «da ist sie wieder, die Tyrannei der Intimität», würde der alte weisse Mann in einem Rollenspiel sagen. Der Text der jungen Frau: «Meine Träne ist politisch! Sie ist ein Zeichen davon, dass die gegenwärtige Struktur nicht mehr funktioniert, dass wir als Einzelne nichts lösen können.» Und zwar auch nicht über die Betonung partikularer Interessen, das also, was die Älteren gerne Identitätspolitik nennen und selten nett meinen. Die 1970er sind so was von zurück.

Es erstaunt daher nicht, dass auch jene Gruppe, die seit ein paar Jahren technologieutopische, neoliberale und bewusst verwirrende Performances zeigt, in den Siebzigern Inspiration sucht. The Agency, eine lose Gruppe von Theaterarbeiterinnen zwischen Berlin und München, zapft im Zürcher Theater Neumarkt den Gebärmutter-Feminismus an. «Mimikry: Mater Dolorosa Bleed» ist eine «immersive Töchterschule», durch die das Publikum in Gruppen wandelt. Auch wenn viele zeitgenössische Themen im Stationenparcours eher gelehrt als aufgeführt werden – die Beziehung zur Vulva, Veganismus, Rassismus, trans –, stellt der Abend die alte Frage nach kollektiven Familienmodellen neu, nach Gebärmüttern, die allen gehören.

Fast nur da inszeniert «Mater Dolorosa» die Ambivalenz, mit der The Agency schon so oft und so clever gespielt haben: Sollen wir unsere radikale Utopie im geschlossenen Kreis leben, in der Töchterschule, oder wäre es sinnvoller, unsere Gebärmütter auch der Gesellschaft da draussen zu leihen? Es sind die besten zehn Minuten des Abends, weil sie bei aller Emotionalität und aller Achtsamkeit, die auch diesen Abend anhauchen, der Gegenwart unerschrocken ins Auge blicken: Safe Space oder schmerzhafte Aushandlung mit Andersdenkenden?

Jetzt endlich ohne Männer

Die Masse emotionalisierter Theaterproduktionen und empfindsamer Körper muss aber nicht zwingend mit der Samtpfote auftreten. Die auch in Schauspielhäusern und an Festivals erfolgreiche österreichische Extremchoreografin Florentina Holzinger zeigt an der Ruhrtriennale und der Berliner Volksbühne ein geradezu machistisches Körpertanztheater. Mit ausschliesslich nackten Frauen, zentral dabei die Zürcher Performerin Annina Machaz. Herrlich, wie souverän Holzinger es in ihrer nur lose an Dante orientierter «The Divine Comedy» schafft, alte und junge Frauenkörper in eine drastische Erotik zu treiben. Es wird auch viel mit Blut und Farbe geschmiert, geschissen und gepinkelt, gesprungen und gehupft – so stellt man sich das avantgardistische, esoterische Wien in den frühen siebziger Jahren vor, nur jetzt endlich ohne Männer und mit sehr viel Koproduktionskohle.

Fast wie am Zürcher Schauspielhaus («Kurze Interviews mit fiesen Männern» in der Inszenierung von Yana Ross) gibt es auch bei Holzinger Sex auf der Bühne. Nebst der feministischen Dringlichkeit, die diesen Theaterherbst dominiert, liegt der Körperlichkeit und der Emotionalisierung eine weitere Kraft zugrunde. Frage ans Archiv: Wann wurde zum letzten Mal so viel geweint in der Öffentlichkeit? In den Gesangsshows der frühen nuller Jahre. Höhepunkt bei «MusicStar» oder «Deutschland sucht den Superstar» war stets die Träne, das Sekret dieses Formats.

Das Sekret, englisch und französisch verstanden als Geheimnis, ist auch die Ausscheidungsflüssigkeit, die herauswill. Mit andern Worten: die Wahrheit. Es war die Zeit, als wir alle, wirklich alle, ins Internet gingen und noch nicht ansatzweise verstanden, was die Maschinen mit uns machen werden. Die Träne, das ausgeschiedene Geheimnis, hat dabei das betont, was wir heimlich bedroht sahen: das Menschliche.

Heute sagen wir nicht mehr Internet, sondern Algorithmen und künstliche Intelligenz. Und wir wissen weniger denn je, was damit auf uns zukommt. Ist es Zufall, dass die alte Kunst Theater darauf mit nackten Körpern und heissen Tränen antwortet?