Krankenkassenprämien: Alle gegen die Versicherten – Finma greift ein

Nr. 40 –

Kassen, Ärzt:innen, Spitäler und Kantone nehmen sich Gelder, die den Versicherten zustehen. Auch der Bundesrat hat kein Gehör für Menschen, die zwanzig Prozent und mehr ihres verfügbaren Einkommens für Prämien aufwenden müssen.

Seit das Krankenversicherungsgesetz vor 25 Jahren eingeführt wurde, hat sich die Prämienlast verdreifacht. Dabei hatte der Bundesrat damals postuliert, dass diese Kosten acht Prozent des steuerbaren Einkommens nicht übersteigen sollten. Auf nächstes Jahr sinken die Prämien erstmals seit 2008, allerdings kaum spürbar. Es wäre deutlich mehr möglich. Denn die Krankenkassen sitzen auf riesigen Reserven. Von Gesetzes wegen müssen sie diese halten, um sich gegen Risiken zu wappnen, etwa gegen Insolvenzen oder wie aktuell gegen einen Pandemiefall. Gesetzlich vorgeschrieben wären sechs Milliarden Franken, tatsächlich horten sie aber das Doppelte. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fordert seit längerem den Abbau der Reserven. Reto Wyss, Zentralsekretär des Gewerkschaftsbundes und ein Kenner der Materie, sagt: «Von den zwölf Milliarden sind mindestens sechs überschüssig – und sie gehören den Versicherten, sie sollten dieses Geld umgehend ausbezahlt bekommen.»

Der Bundesrat wurde zwar aktiv und änderte die entsprechende Verordnung, aber der Abbau der Reserven bleibt für die Krankenkassen dennoch fakultativ. Aktuell bauen sie gerade einmal 380 Millionen ab – das sind etwas mehr als ein Prozent des gesamten Prämienvolumens und bloss rund drei Prozent des Reservebestands. Wyss sagt: «Dank der Börsengewinne werden die Reserven trotzdem nicht sinken, sondern weiter wachsen. Neun von zehn Versicherern bauen keinerlei Reserven ab, darunter Kassen, die fünfmal mehr Reserven halten als vorgeschrieben.»

Die Krankenkassen selbst sind aber nicht das Hauptproblem für die Versicherten.

Doppelte Verrechnungen

Die Prämien werden auch von den Ärzt:innen und den Spitälern in die Höhe getrieben. Und es handelt sich nicht bloss um Einzelfälle. Das haben Stichproben der Finanzaufsichtsbehörde (Finma) ergeben, die die Zusatzversicherer beaufsichtigt. Aktiv wurde die Behörde, weil bei ihr Hinweise auf möglicherweise nicht korrekte Abrechnungen gegenüber den Krankenkassen eingingen. Der Befund ist erschreckend. Die Finma sieht einen «umfassenden Handlungsbedarf bei Leistungsabrechnungen».

Die Aufsichtsbehörde fand beispielsweise heraus, dass Arzt- und Spitalrechnungen zum Teil unbegründet hoch oder gar ungerechtfertigt waren. So wurden Leistungen doppelt verrechnet. Ein Beispiel: Bei einfachen Operationen für Hüftprothesen wurden zu den je rund 16 000 Franken für jede Hüfte – gedeckt durch die Fallpauschale aus der Grundversicherung – 1500 bis 25 000 Franken auch noch der Privatversicherung in Rechnung gestellt. Ein besonders krasses Beispiel, auf das die Finma stiess: Bei der Behandlung eines Privatpatienten stellten nicht nur die ausdrücklich ausgewählten behandelnden Ärzt:innen Honorare in Rechnung, sondern insgesamt rund vierzig (!) Ärzt:innen. Auch die Bandbreite bei der Verrechnung von Hotellerieleistungen ist gross. Die Finma stellte fest, dass Spitäler Hotelleriekosten systematisch überschreiten. Von Krankenhäusern, in denen es ausschliesslich Zweibettzimmer gibt, wurde Halbprivatversicherten für den bereits durch die Grundversicherung gedeckten Service «Zweibettzimmer» ein Aufpreis verrechnet.

Die Finma geht aufgrund ihrer Analysen von einem «signifikanten Betrag aus, der den Prämienzahlern nicht belastet werden sollte». Die Aufsichtsbehörde wies die Versicherer an, ihre Verträge mit der Ärzteschaft und den Spitälern anzupassen und für transparente und nachvollziehbare Rechnungen zu sorgen. Und – wo nicht vorhanden – ein wirksames Controlling einzuführen. Die WOZ fragte bei der Finma nach, ob die Versicherer auf die Kritik reagieren. Die Antwort: «Sie haben sich bewegt. Allfällige Anpassungen sind nicht von einem Tag auf den anderen möglich. Denn Anpassungen können nicht alleine bei Versicherungsunternehmen erfolgen, da dies in den Verträgen mit den Leistungserbringern reflektiert sein muss.»

Der Schweizerische Versicherungsverband hat im Juni aufgrund der scharfen Rügen elf Grundsätze erarbeitet, die definieren, welche Tarife künftig bei den Leistungen der Spitalzusatzversicherungen gelten und wie sie abzurechnen sind. Bis 2024 sollen die Vorgaben von den Versicherern umgesetzt sein. Für SGB-Zentralsekretär Reto Wyss ist klar: Die missbräuchlich hohen Rechnungen fliessen ein, wenn die Krankenkassen die Prämien berechnen, und beeinflussen deren Höhe. Auch die Grundversicherten bezahlen also mit.

Die Rolle der Kantone

Auch die Kantone haben sich im Lauf des vergangenen Jahrzehnts bei der Prämienverbilligung aus der Verantwortung gestohlen. Während die Kopfprämien Jahr für Jahr gestiegen sind und die Bevölkerung gewachsen ist, erhöhten bloss sechs Kantone ihr Prämienverbilligungsvolumen. Das ergibt eine Statistik des Bundesamts für Gesundheit. Alle anderen Kantone gaben relativ gesehen weniger aus – und neun Kantone geben sogar in absoluten Zahlen weniger aus als vor zehn Jahren. Reto Wyss stellt ausserdem fest, dass die Kantone sich aus diesem Topf bedienen und damit die Krankenkassenprämien bei den Ergänzungsleistungen und der Sozialhilfe finanzieren. «Entsprechend bleibt vor allem für Familien weniger, manche verlieren sogar ihre Anspruchsberechtigung», sagt er. Die Löhne und Renten haben mit dem rasanten Prämienwachstum nicht Schritt gehalten, das verschärft das Problem.

Die Kantone sparen auf Kosten ihrer Bürger:innen. Zieht man die Leistungen an die Sozialhilfe und die Ergänzungsleistungen ab, ist das Prämienverbilligungsvolumen von 10,1 Prozent im Jahr 2010 auf 7,7 Prozent im Jahr 2020 geschrumpft. Ausgerechnet Steuerdumpingkantone geben für Prämienverbilligungen immer weniger aus. Am schlechtesten schneidet im Zehnjahresvergleich Nidwalden ab (–11,3 Prozent), gefolgt von Appenzell Innerrhoden, Obwalden und Luzern. Wo Reiche ihre Steuern optimieren, geht es dem Rest schlechter. Immer mehr Familien aus dem Mittelstand geraten unter Druck. Mitunter belasten die Prämien die Haushalte erheblich stärker als die Steuern.

Nicht mehr als zehn Prozent

Die SP versucht das sozialpolitisch brisante Thema mit der Prämienverbilligungsinitiative zu lösen. Niemand soll mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben. Damit kommt sie dem Ziel ziemlich nahe, das der Bundesrat nach Einführung der obligatorischen Krankenversicherung im Jahr 1996 formuliert hatte. Die SP verlangt, dass die dafür notwendigen Prämienverbilligungen zu zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den Kantonen finanziert werden. Diese Steuermittel sollen die unsozialen Kopfprämien abmildern.

Doch der Bundesrat lehnt die Initiative ab. Ende September hat er in einer Botschaft einen Gegenvorschlag präsentiert. Demnach soll nicht der Bund mehr Mittel zur Verfügung stellen, sondern die Kantone. Er argumentiert mit Kosteneffizienz. Denn die Kantone hätten deutlich mehr Einfluss auf die Entwicklung der Gesundheitskosten. Damit ist die politische Auseinandersetzung eröffnet.