Klimakrise in Zentralasien: Ein Krieg um fliessende Grenzen

Nr. 44 –

Manche Teile von Kirgistans Aussengrenzen wurden nach Zerfall der Sowjetunion nie definitiv gezogen, im Frühling kam es erneut zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Zentraler Streitpunkt ist das Wasser, das in der Region immer knapper wird.

Ohne Bewässerungssystem wäre Landwirtschaft in diesem Teil Zentralasiens unmöglich: Der Tortkul-Stausee nahe der kirgisisch-tadschikischen Grenze. Foto: Danil Usmanov

Das Wasser des Tortkul-Stausees glänzt wie ein geschliffener Smaragd, aber Asylbek Osmonow ist vom Anblick wenig beeindruckt. Der zwanzigjährige Kirgise mit dem sonnengegerbten Gesicht, der eigentlich einen anderen Namen hat, verbringt hier viel Zeit. Im Rahmen seines obligatorischen Militärdiensts patrouilliert er stundenlang an den Ufern des Wasserreservoirs.

Der Tortkul-Stausee ist die Hauptwasserquelle für das dicht besiedelte Gebiet Batken ganz im Südwesten Kirgistans. Eingekesselt zwischen den Nachbarländern Tadschikistan und Usbekistan, ist es der am weitesten von der Hauptstadt Bischkek gelegene Landesteil. Im Süden erheben sich das Turkestan- und das Alaigebirge, nördlich beginnt das trockene Ferghanatal; im hiesigen Steppenklima auf über tausend Höhenmetern steigen die Temperaturen im Sommer auf bis zu vierzig Grad.

Landwirtschaft wäre in diesem Teil Zentralasiens unmöglich ohne Bewässerungssystem. Der in den siebziger Jahren gebaute Stausee ist ein wichtiger Teil davon: Er fasst bis zu neunzig Millionen Kubikmeter Wasser, das die gesamte Region das ganze Jahr über versorgt. Gespeist wird er vom Fluss Aksuu, der im Turkestangebirge entspringt und durch Batken nach Tadschikistan fliesst. Der Aksuu ist überlebenswichtig für unzählige Bäuer:innen: 11 000 Hektaren Ackerland werden durch ihn bewässert, gleichzeitig dient er der Trinkwasserversorgung.

Das Wasser wird knapper

Der kritische Punkt am Aksuu ist das «Golownoi Wodorazdel», auf Deutsch «Oberlauf-Wasserverteiler»: eine gigantische Schleuse, die das Flusswasser zweiteilt. Der eine Teil des Wassers setzt seinen natürlichen Weg nach Tadschikistan fort, der andere gelangt in den Stausee. Wie gross die Anteile sind, wird durch ein kompliziertes Quotensystem bestimmt, das noch aus der Sowjetzeit stammt.

Dank des Tortkul-Stausees können in Batken Aprikosen, Granatäpfel und sogar Reis angebaut werden. Doch die Klimaerhitzung fordert hier einen besonders hohen Tribut. Gemäss Klimaforscher:innen ist Zentralasien ein Hotspot des Klimawandels. Die hiesigen Hochgebirge, etwa der Pamir und der Tienschan, fungieren als überregionale Wasserspeicher. Die Temperaturen steigen hier schneller als im globalen Durchschnitt, und das hat drastische Folgen: Die Gletscher schwinden, die Niederschläge werden unregelmässiger, Starkregen führen zu Schlamm- und Steinlawinen in ungekannten Ausmassen, während die Vegetationsperiode kürzer wird. Früher behielt der Boden in Batken seine Feuchtigkeit bis in den Sommer hinein, heute muss er schon zu Beginn des Frühjahrs bewässert werden. Ab April herrscht deshalb auf den Feldern Hochkonjunktur. Die ländliche Bevölkerung der Region hat kaum etwas zur Klimaerhitzung beigetragen – aber deren Folgen bekommt sie immer stärker zu spüren. Nicht zuletzt in Form des Wasserkonflikts, der unlängst einen neuen Höhepunkt erreichte.

Das Batken-Gebiet (grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ

«Am 28. April brach der Krieg aus», sagt Asylbek Osmonow, der junge Soldat, der an den Ufern des Tortkul-Stausees patrouilliert. «Die Tadschiken wollten uns das Golownoi Wodorazdel klauen, das auf unserem Land steht!» Was Osmonow damit meint: Von tadschikischer Seite – von wem genau, ist unklar – war versucht worden, an der Schleusenanlage Überwachungskameras zu installieren. Offenbar sollte sichergestellt werden, dass von kirgisischer Seite kein Wasser entwendet wird – etwa unter dem Vorwand von Sanierungsarbeiten, die der kirgisische Präsident Sadyr Dschaparow zuvor angekündigt hatte. Was zunächst wie ein kleines Scharmützel zwischen zwei benachbarten Dörfern aussah, entwickelte sich rasch zur Artillerieschlacht.

Kirgisische Medien berichteten von mindestens 50 Toten und fast 200 Verletzten, darunter auch Zivilist:innen; Asylbek Osmonow sagt, er habe von 700 Todesopfern gehört. Die tadschikischen Behörden geben keine Zahlen bekannt. Was sich belegen lässt: Wohnhäuser wurden niedergebrannt, Schulgebäude zerstört. Kirgisischen Medien zufolge mussten über 50 000 Menschen evakuiert werden. Von allen grösseren und kleineren Gewaltausbrüchen in der Region war dies der dramatischste der letzten Jahre. «Fahr nach Kök-Tasch», rät Asylbek Osmonow, «an die Grenze. Dort kann man die Spuren dieses Krieges sehen.»

Leben auf dem Schachbrett

Das Ferghanatal ist zwischen drei ehemaligen Sowjetrepubliken aufgeteilt: Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan. Kök-Tasch liegt im kirgisischen Teil, wo die Situation besonders kompliziert ist. Die Zusammensetzung der Bevölkerung gleicht einem ethnischen Mosaik, und der Grenzverlauf bereitet Kopfzerbrechen. Innerhalb Kirgistans gibt es Enklaven, von denen das usbekische Soch und das tadschikische Woruch die grössten sind.

Dafür verantwortlich sind nach landläufiger Meinung Josef Stalin und seine Nationalitäten- und Umsiedlungspolitik in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Menschen mussten sich damals zu Tausenden in neu errichteten Sowchosen und Kolchosen niederlassen, um als Arbeitskräfte zu dienen. Usbek:innen und Tadschik:innen, die nach sowjetischer Klassifizierung als Modellbäuer:innen galten, erhielten oft besser zu bewässernde Flächen. Das führte zu Spannungen, die noch heute spürbar sind. Auch was die Aussengrenzen von Batken betrifft, halten die Streitigkeiten an. Seit dem Zerfall der Sowjetunion wurde deren Verlauf nie eindeutig geregelt; drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit schliesst Kirgistan zwar langsam den Demarkationsprozess mit Usbekistan ab, die Hälfte des Grenzverlaufs mit Tadschikistan bleibt aber ungeklärt.

Das Dorf Kök-Tasch liegt auf einem dünnen Landstreifen, der die Enklave Woruch vom Rest Tadschikistans trennt. Manche Teile des Dorfes sind kirgisisch dominiert, andere tadschikisch. Die Einwohner:innen sagen, sie lebten auf einem Schachbrett. An den Strassenecken stehen Soldaten, die tatsächliche Kontrolle liegt jedoch in anderen Händen: Mitten im Dorf sitzt eine Gruppe von Männern am Strassenrand, karierte Hemden, einen Kalpak auf dem Kopf; die weisse Filzmütze ist eine beliebte kirgisische Kopfbedeckung. Es herrscht wenig Verkehr. Doch als ein Lastwagen hinter einer Kurve auftaucht, tritt die selbsternannte Verkehrspolizei in Aktion. In Kirgistan werden sie «Druschinniki» genannt, «Gefolgsleute», oder auch «Teamsters».

Die Männer, die der Druschina – oder eben: dem «Team» – angehören, sind alle von hier. Einige von ihnen sind jedoch erst während der Pandemie zurückgekehrt: Sie waren Saisonarbeiter in Russland. Der älteste, der 46-jährige Tokubek Asanow, fuhr Taxi in Moskau. Auch er heisst eigentlich anders. Zum Wohl der Provinz habe er sich der Druschina angeschlossen, sagt er. Die Druschinniki geniessen in Batken grosse Wertschätzung, von den lokalen Behörden wird ihr Auftreten geduldet. Sie kontrollieren den Strassenverkehr, halten Lastwagen an und suchen nach Schmuggelware.

Nach dem Konflikt im April wurde der Grenzverkehr mit Tadschikistan eingestellt. Der Grenzhandel kam fast ganz zum Erliegen. Die kirgisischen Obstbäuer:innen blieben auf ihrer Ware sitzen, und auch die Rinder- und Schafzüchter:innen sind betroffen: Kirgistan ist ein wichtiger Fleischexporteur.

Seit April machten es sich in Batken viele Teamster zur Aufgabe, Strassen und Bewässerungskanäle zu bewachen. Der kirgisischen Armee mag Asanow sein Vertrauen nicht schenken. Die Soldaten kommen selten aus der Region, «man muss sie im Auge behalten», sagt er und drückt damit eine Haltung aus, die hier viele teilen. Seit Jahren fühlen sich die südlichen Gebiete abgehängt von der Regierung in Bischkek, das ganz im Norden des Landes liegt. Der Süden ist ärmer, konservativer – und gilt wegen seiner multiethnischen Bevölkerung als weniger «kirgisisch». Für Asanow sind die langwierigen Demarkationsgespräche ein Paradebeispiel der Vernachlässigung: «Sie waren einfach faul», sagt er über die Politiker:innen in der Hauptstadt. Für seine Region bedeuten die umstrittenen Grenzen vor allem Stillstand: Es wird kaum Neues gebaut, die alte Infrastruktur wird mühselig instand gehalten. Es mangelt an Arbeitsplätzen, weshalb junge Menschen aus Batken in Scharen nach Russland auswandern.

Angst vor einer Besetzung

Die komplexe Grenzsituation bildet sich auf der Strasse von Kök-Tasch zum Tortkul-Stausee deutlich ab. Auf der einen Seite, in einem betonierten Kanal, plätschert Wasser. Auf der anderen breitet sich eine sonnenverbrannte Einöde aus. «Der Kanal und die Strasse gehören uns», sagt Asanow. «Und hier», er zeigt auf den Strassenrand, «beginnt Tadschikistan.» Grenzposten oder einen Zaun gibt es nicht. Etwas weiter, inmitten einer trockenen Ebene, erinnert das Gerippe eines ausgebrannten Militärwagens an die letzten Kampfhandlungen. «Ehrlich gesagt, geht es nicht nur um Wasser, sondern auch um Land», sagt Asanow und schaut in die Ferne. Er befürchtet, dass die tadschikische Armee die Region eines Tages besetzen wird.

In Batken stritt man zwar schon zu Zeiten der Sowjetunion ums Wasser, doch deren Zerfall verschärfte die Situation. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als ein Grossteil der Wasserinfrastruktur errichtet wurde, dachte niemand daran, dass diese eines Tages von drei unabhängigen Staaten beansprucht würde. Und die Anlagen werden nicht jünger. Aufgrund ihres maroden Zustands belaufen sich die Wasserverluste nach Angaben internationaler NGOs auf über dreissig Prozent. Auch das Golownoi Wodorazdel müsste überholt werden, was die Regierung Tadschikistans aber vehement ablehnt: Kirgistan wolle die Schleusenanlage nur instand halten, um dann Anspruch darauf und auf das ganze Wasser des Aksuus zu erheben.

Schon am 1. Mai erklärten die Regierungen Kirgistans und Tadschikistans einen Waffenstillstand. Dennoch kam es seither zu weiteren Zusammenstössen, mit Verletzten und auch Toten. Nur allzu schnell greifen die Soldaten zu ihren Waffen, und wo die Grenzen umstritten und oft unsichtbar sind, ist es leicht, einen Schritt zu weit auf die falsche Seite zu machen.

Seit zehn Stunden patrouilliert Asylbek Osmonow in der sengenden Hitze an den Ufern des stillen Tortkul-Stausees. Lediglich vereinzelte Badegäste aus der Gegend stören ein bisschen die Ruhe. Das Schwimmen im Reservoir ist eigentlich verboten, aber wer Osmonow um Erlaubnis bittet, darf vielleicht doch rein. Manchmal springt er selbst gerne ins Wasser. «Die Lage ist angespannt», sagt der Soldat aber, während er die Kalaschnikow auf seinem Rücken zurechtrückt, «ein Funke reicht.» Wie zur Bestätigung sind aus der Ferne Schüsse zu hören. «Kein Stress. Das sind nur Manöver», sagt der Zwanzigjährige. «Wenn nötig, werden wir aber in Aktion treten.»