Chile: Das absehbare Ende des Pinochet-Staats

Nr. 45 –

Vor der Wahl am 21. November ist die politische Landschaft in Bewegung wie lange nicht mehr. Zum ersten Mal seit Salvador Allende tritt ein dezidiert linker Kandidat an – und er hat durchaus Chancen.

Prominent, aber nicht eben der ideale Kandidat: Gabriel Boric von der Apruebo Dignidad gilt als Vertreter der autonomen Linken. Foto: Esteban Felix, Keystone

Im Süden von Chile ging es zuletzt zu wie in Zeiten der Diktatur. Mitte Oktober hat Präsident Sebastián Piñera in 72 Gemeinden den Ausnahmezustand verhängt, was bedeutet, dass die paramilitärische Polizeitruppe der Carabiñeros durch Militärs verstärkt wird, um Proteste zu ersticken. Anlass waren mehrere Brandanschläge von militanten Mapuche in der Region. Die Ethnie kämpft seit 200 Jahren um die Rückgabe des Landes, das ihr im 19. Jahrhundert von Schweizer und deutschen Siedler:innen mithilfe des Staats geraubt worden war. Die Mapuche werden noch immer mit den rechtsstaatlich mehr als fragwürdigen Antiterrorgesetzen verfolgt, die Augusto Pinochet während der Diktatur (1973–1989) verhängt hatte.

Es ist das letzte Aufbäumen des Pinochet-Staats. Piñera – einer der reichsten Männer Südamerikas – ist am Ende seiner zweiten Amtszeit schwer angeschlagen. Grund dafür ist unter anderem sein brutales Vorgehen gegen die sozialen Proteste, die im Oktober 2019 aufflammten und sich über Monate hinzogen. Erst eine Covid-Ausgangssperre im März 2020 setzte den täglichen Demonstrationen und Strassenschlachten ein Ende. Zur Durchsetzung der Ausgangssperre schickte Piñera neben der Polizei auch Soldat:innen auf die Strassen. Er liess Carabiñeros gezielt mit Gummigeschossen in die Gesichter von Demonstrant:innen schiessen. Über 400 Personen verloren eines oder beide Augen, mehr als dreissig Menschen wurden getötet.

Derzeit wird überdies ein Amtsenthebungsverfahren gegen den rechten Präsidenten angestrebt. Den Anlass lieferte die Veröffentlichung der sogenannten Pandora Papers. Laut diesen Veröffentlichungen soll Piñera im Zusammenhang mit dem Verkauf eines Geländes aus Familienbesitz 2011 Steuern hinterzogen, Schmiergelder bezahlt und als Präsident verhindert haben, dass ein Gelände mit sensiblem Ökosystem zum Naturschutzgebiet erklärt wird. Grund dafür war der geplante Bau einer Kupfer- und Eisenmine in der Region.

Egal, ob das Amtsenthebungsverfahren Erfolg hat oder nicht, mit Piñeras Amtszeit wird auch die über drei Jahrzehnte dauernde bleierne Zeit des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie zu Ende gehen. Zwei politische Ereignisse stehen dafür: die Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 21. November und die derzeit tagende verfassunggebende Versammlung, die die noch immer geltende Pinochet-Verfassung aus dem Jahr 1980 ausser Kraft setzen wird. In dieser Versammlung haben linke und aus sozialen Bewegungen stammende Mitglieder die absolute Mehrheit; Vorsitzende ist die Mapuche Elisa Loncón, eine renommierte Linguistin. Vertreter:innen rechter Parteien haben nicht einmal ein Drittel der Sitze inne.

Privatisieren auf Teufel komm raus

Die Übergangszeit war nicht nur geprägt von Carabiñeros und Terrorgesetzen. Vor allem trauten sich die auf die Diktatur folgenden gemässigten Regierungen nie, das von Pinochet geschaffene extrem neoliberale Gesellschaftsmodell zu reformieren. Piñera, von 2010 bis 2014 schon einmal Präsident, war erst durch dieses Modell zum Superreichen geworden. In Chile wurde seit Mitte der siebziger Jahre privatisiert wie sonst nirgends: Nicht nur das Bildungs- und Gesundheitssystem, selbst das Wasser von Flüssen ging in die Hände von Einzelpersonen. Die arbeitende Bevölkerung wurde gezwungen, Unternehmen über obligatorische private Rentenfonds Kapital zur Verfügung zu stellen, um am Ende des Arbeitslebens Renten zu bekommen, die nur in seltenen Fällen das Existenzminimum überschreiten und oft deutlich darunter liegen. Die einst starke Mittelschicht des Landes ist darüber fast verschwunden. Und trotzdem redeten die mehrheitlich rechten Massenmedien des Landes den Chilen:innen ein, sie seien eben sehr konservativ und wollten das so. Das haben in den vergangenen fünfzehn Jahren immer weniger Menschen geglaubt.

Selbst die katholische Kirche, die lange das Monopol auf die – natürlich konservative – Moral für sich in Anspruch nahm, hat abgewirtschaftet, seit bekannt ist, dass eine Reihe von Bischöfen Kindern gegenüber sexuell übergriffig waren. Papst Franziskus hat das noch verschlimmert, als er 2015 den Komplizen eines priesterlichen sexuellen Straftäters zum Bischof der Provinzstadt Osorno ernannte und Proteste dagegen als «dumm» und «von Linken orchestriert» bezeichnete.

Die Zeit der Angst ist vorbei

Die erste Generation, die nach der Diktatur geboren wurde und keine Angst mehr hatte vor Carabiñeros und Militär, läutete den Aufbruch ein. Man nannte die Schüler:innenrevolte von 2006 die Bewegung der Pinguine, weil die Jugendlichen in ihren sackartigen Schuluniformen und weissen Blusen tatsächlich ein bisschen an diese Schwimmvögel erinnern. In den Jahren 2011 und 2012 waren aus den Pinguinen Student:innen geworden, es kam zur ersten Studierendenrevolte, gefolgt von einer zweiten 2015 und 2016. Der Anlass war immer derselbe: die sündhaft teuren privaten Schulen und Universitäten und die immer mehr zu Tode gesparten öffentlichen Einrichtungen. Ausgehend vom Protest gegen das Bildungssystem wurde das neoliberale Gesellschaftsmodell als solches infrage gestellt.

Auch die Revolte von 2019 und 2020 wurde von Schüler:innen angestossen. Nach einer Fahrpreiserhöhung für die U-Bahn in der Hauptstadt Santiago riefen sie zum massenhaften Schwarzfahren auf und taten es auch. Piñera schickte Carabiñeros, liess die jungen Leute niederprügeln und löste damit eine soziale Explosion aus. Es waren diese Hunderttausende, die monatelang auf der Strasse standen, die die verfassunggebende Versammlung erzwangen.

Auch die nachdiktatorischen politischen Machtblöcke – eine von der Christdemokratie und Sozialist:innen angeführte gemässigte Koalition auf der einen und eine Allianz aus rechten Unternehmer:innen und alten Pinochetist:innen auf der anderen Seite – sind über diesen Unruhen zerbrochen. Camila Vallejo, die prominenteste Sprecherin der Student:innenunruhen von 2011 und 2012 und seit fast acht Jahren für die Kommunistische Partei im Parlament, sagte einmal auf die Frage, warum sie lieber ins Parlament als auf die Strasse gehe: Sie gehe weiterhin auf die Strasse. Aber es mache auch Spass, im Betonblock der Macht kleine Risse zu suchen, in die sie Samenkörner legen könne. Gingen diese Samen dann auf, würden sie den Block in Stücke sprengen. Das ist inzwischen geschehen.

Es hatte sich schon bei der Parlamentswahl von 2017 abgezeichnet. Damals wurde der eben gegründete Frente Amplio, ein Sammelbecken aus vielen kleinen linken und liberalen Gruppierungen, auf Anhieb drittstärkste Kraft und brachte das bisherige Gleichgewicht zwischen gemässigt und rechts durcheinander. Seine Präsidentschaftskandidatin, Beatriz Sánchez, verfehlte die Stichwahl um die Präsidentschaft nur knapp. Doch es folgten die üblichen Kinderkrankheiten der Linken: Die Kommunistische Partei suchte nicht die Nähe der neuen politischen Kraft, sondern schloss sich dem gemässigten Block an. Und der Frente Amplio zersplitterte in ideologischen Debatten und Eifersüchteleien. Diese Probleme wurden mit der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung überwunden. Die Kommunist:innen, der zur Convergencia Social gewandelte Frente Amplio und ein paar kleinere Gruppen traten unter dem Namen «Apruebo Dignidad» (etwa: «Ich stehe für Würde») an. Dasselbe Bündnis bewirbt sich jetzt bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl. Es gibt zum ersten Mal eine wirklich linke Alternative.

Sieben Kandidat:innen treten an

Ihr Präsidentschaftskandidat ist prominent, aber nicht eben ideal: Gabriel Boric war zusammen mit Vallejo einer der Sprecher der Student:innenbewegung von 2011 und 2012 und sitzt seit 2014 im Parlament. Er gilt als dezidierter Vertreter der autonomen Linken, aber auch als Kontrollfreak. 2018 hat er sich wegen psychischer Probleme selbst für ein paar Wochen in eine psychiatrische Klinik eingeliefert – ein gefundenes Fressen für seine Gegner:innen. Aber er hat einen Vorteil: Seit dem 11. Februar ist er 35 Jahre alt, das gesetzliche Mindestalter für das Präsidentenamt. Charismatischere Figuren als er haben dieses Alter noch nicht erreicht. Vallejo etwa ist 33, die kürzlich zur Bürgermeisterin der Hauptstadt Santiago gewählte Kommunistin Irací Hassler erst 31 Jahre alt.

Unter den fünf weiteren Kandidaten und der einen Kandidatin, die am 21. November antreten, gibt es zwei, die Boric gefährlich werden könnten: Der eine ist Sebastián Sichel, der für die Überreste des alten Rechtsblocks steht. Er stellt sich als Kandidat ohne direkte Parteibindung vor. Der 44-jährige Jurist und Verwaltungswirt hat einen zweifelhaften Ruf: Nicht nur illegale Parteienfinanzierung wird ihm vorgeworfen, er fiel überdies mit sozialer Kälte und einer fragwürdigen Einstellung zu Menschenrechten auf. So hat er als kurzzeitiger Sozialminister unter Piñeras 2019 das Nationale Jugendinstitut abgeschafft – eine Wohlfahrtsbehörde, die sich vor allem um sozial benachteiligte junge Leute kümmern sollte. Als Präsidentschaftskandidat sagte er der rechten Tageszeitung «El Mercurio», Menschenrechte seien zweitrangig, wenn Sicherheit und Ordnung verteidigt werden müssten. Man dürfe sich nicht hinter ihnen verstecken. Als es Proteste hagelte, nahm er seine Worte nicht etwa zurück, sondern bekräftigte sie sogar noch.

Dass Sichel in Umfragen manchmal von José Antonio Kast überholt wird, macht die Sache nicht besser. Der 55-jährige Anwalt ist eine Art chilenischer Bolsonaro: offen homophob und ein Bewunderer des ehemaligen peruanischen Diktators Alberto Fujimori. Er tritt für die Republikanische Partei an, in der sich alte Pinochetist:innen sammeln, und wird von einer rechten evangelikalen Partei unterstützt. In Umfragen liegen er und Sichel bei um die 20 Prozent. Boric kommt auf knapp 35 Prozent.

Wenn niemand im ersten Wahlgang die Fünfzigprozentmarke überspringt, kommt es am 19. Dezember zur Stichwahl. Dann wird entscheidend sein, wer die Stimmen der weitgehend chancenlosen gemässigten Kandidaten erhält. Ein dezidiert Linker wird für viele Bürgerliche eine dicke Kröte sein, die zu schlucken sie sich lange überlegen werden. Eines aber ist klar: Die politische Landschaft Chiles ist über die vergangenen Jahre so in Bewegung geraten wie seit der Wahl des Sozialisten Salvador Allende vor 51 Jahren nicht mehr. Die lange Starre des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie wird mit dieser Wahl und mit der verfassunggebenden Versammlung vorbei sein. Die Frage ist nur, ob sie ein gutes oder ein schlechtes Ende nimmt.