Ein Traum der Welt: Echte Kost

Nr. 6 –

Annette Hug findet Dublin und Fukushima in Zürich

«Wie sollen wir das je wieder sauber kriegen», sagte Hazel nach dem Erdbeben, bei dem ein Tsunami ihr Haus überflutet hatte. Es stand neben einem Atomkraftwerk, da hatte sie lange gearbeitet. Jetzt ist sie mit ihrem Mann Robin einige Kilometer weggezogen, knapp ausserhalb der verstrahlten Zone.

Die Szene erinnert ans japanische Fukushima, spielt aber in England, in einer ungewissen Zukunft. Hazel erzählt der alten Arbeitskollegin Rose, die nach über dreissig Jahren unerwartet aufkreuzt, von der Katastrophe, die alles verändert hat. Sie begegnen sich auf drei bis vier Quadratmetern. Da versucht Hazel, Ordnung zu halten. Auch die Beziehungen sind kompliziert, stellt sich bald heraus. Und weil Hazel, Robin und Rose eigentlich nicht in England sind, sondern Figuren auf einer Kleinbühne in Zürich, bleibt die Hoffnung intakt, dass es in zwei Stunden möglich sein wird, etwas zu begreifen. Auch gedanklich könnte sich ein bisschen Ordnung einstellen, obwohl Hazel ein durchorganisierter Haushalt und tägliche Übungen nicht mehr viel nützen. Sie verliert die Kontrolle.

Doch was für ein Genuss: mitreissende Schauspieler:innen statt Flachgesichter auf einem Bildschirm. Wenn die Dialoge am beklemmendsten werden, kann man den Blick zur Seite wenden und das Bühnenbild studieren, die gezielt ausgewählten Löcherbecken etwa, und sich überlegen, was an dieser Ausstattung an alternatives Milieu denken lässt. Was wiederum alles Mögliche heissen kann, nach zwei Jahren Corona – Marx, Stonehenge, QAnon? Und wenn dann das Rauschen der Brandung den Raum ausfüllt, geht das Kammerstück auf der Bühne in einer Zeit auf, die das Leben aller Anwesenden weit übersteigt.

Am Vortag hat Buck Mulligan, eine Nebenfigur aus James Joyces Roman «Ulysses», vom Grossmünsterturm herunter den Tag gesegnet. Im Scherz. Er trug einen gelben Morgenmantel und war daran, sich zu rasieren. Die Stadt, über die er von seinem Turm blickte, war Zürich, aber eigentlich Dublin. Oder beide zugleich. Schliesslich hat Joyce in Zürich an seinem Jahrhundertroman geschrieben, hier Zeitungen und Verzeichnisse aus Irland studiert, um sich wegzudenken in eine geliebte Stadt, die er eigentlich nicht mehr ertrug.

Jetzt bricht nicht nur der Frühling aus, dachte ich am Nachmittag. Da waren die Lesungen im «Ulysses»-Marathon zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Romans schon vollständig überrannt von Leuten, die auch aus Mailand oder Bern oder Basel kamen. Vielstimmig war in Zeitungen und Magazinen dafür geworben worden, Joyce aus der Schublade «Nur für Eingeweihte» zu befreien, Witz und Erfindungsgeist seien da zu entdecken. «Gebt uns diesen Schunken», schien das herbeiströmende Publikum zu fordern. Dafür waren die «Kronenhalle» und das Pub James Joyce zu klein, nicht aber die Museumsgesellschaft und der Saal im Restaurant Weisser Wind. Für währschafte literarische Kost braucht es offenbar Festsäle.

Vielleicht liess auch die Ankündigung, dass jetzt dann wahrscheinlich bald die Coronaauflagen aufgehoben werden, erste Schleusen brechen. Wie schön ist das, wenn sich das eigene Nachdenken nicht mehr einsam verpixelt, sondern mit echten Stimmen und Einwänden verbindet. Und mit einem Whiskey for the road, nach der letzten Lesung um zwei Uhr morgens in der Zürcher James-Joyce-Stiftung.

Annette Hug hat viel «Ulysses» gehört, aber auch «Die Kinder» von Lucy Kirkwood gesehen – das Stück läuft noch bis am 12. Februar 2022 im Theater Winkelwiese in Zürich und dann hoffentlich auch in anderen Städten der Schweiz.