Fall Lina E.: Weitaus weniger eindeutig als die Schlagzeilen

Nr. 12 –

Seit sechs Monaten stehen in Dresden vier Antifaschist:innen vor Gericht. Die Verhandlung fällt durch Ungereimtheiten auf – so verschafft womöglich ausgerechnet eine polizeiliche Überwachung einem der Angeklagten ein Alibi.

Mitten in einer urbanen Ödnis, zwischen Autobahnzubringer, Wertstoffhof und einer Justizvollzugsanstalt, liegt die Aussenstelle des Oberlandesgerichts Dresden. Hier tagt der Staatsschutzsenat zu seinen Verhandlungen. Vor dem Eingang hat sich eine lange Schlange gebildet. Jede Person, die hinein will, muss durch eine strikte Sicherheitskontrolle – Metalldetektorscan und Ausziehen der Schuhe inklusive. Bis auf die Vertreter:innen der Medien stehen an diesem Morgen Mitte März ausnahmslos Unterstützerinnen und Angehörige der vier Angeklagten an. Drinnen müssen sich drei Männer und eine Frau wegen «Bildung einer kriminellen Vereinigung» verantworten. Deren Ziel sollen gewalttätige Angriffe auf Rechtsextreme gewesen sein.

Lina E. ist die einzige angeklagte Frau. Nach ihrer Verhaftung im November 2020 wurde die 27-jährige Studentin mit einem Helikopter von Leipzig nach Karlsruhe geflogen, um dort am Bundesgerichtshof dem Ermittlungsrichter vorgeführt zu werden. Boulevardmedien wie die «Bild» schreiben wahlweise von der «Chef-Chaotin im Minirock» oder der «Roten Rächerin». Bürgerliche Medien und gar liberale wie der «Tagesspiegel» ziehen schon mal Parallelen zur RAF.

Längst ist Lina E. zum Symbol der linken Szene in Deutschland geworden. Der Prozess ist jedoch weitaus weniger eindeutig als die Schlagzeilen. Seit Prozessbeginn im September 2021 ist bereits 37-mal verhandelt worden. Mediale Aufmerksamkeit gibt es nur noch zu besonderen Anlässen.

Der besondere Zeuge

Am 36. Verhandlungstag ist der Saal wieder einmal voll. Mit Spannung erwartet das Publikum die Aussage eines besonderen Zeugen: Leon Ringl, ein 24-jähriger Rechtsextremer aus Eisenach, ist geladen. Er soll zu zwei gewalttätigen Auseinandersetzungen aussagen. Im Oktober 2019 wurde seine Kneipe «Bull’s Eye» von Vermummten angegriffen. Zwei Monate später wurden er und seine Begleiter vor seinem Wohnhaus überfallen.

Ringl hat längst über seine thüringische Heimatstadt hinaus Bekanntheit erlangt. «T‑Online» und das ZDF berichteten über die Verbindungen, die er zur «Atomwaffen Division» haben soll, einer rechtsterroristischen Gruppierung aus den USA. Die Bundesanwaltschaft erhofft sich einiges von Ringls Aussagen: Lina E. wurde im Dezember 2019 in einem vom Tatort flüchtenden Fahrzeug verhaftet – das bisher stärkste Indiz ihrer Beteiligung an einer der acht angeklagten Straftaten.

Bevor Leon Ringl jedoch aussagen kann, meldet sich Rechtsanwältin Undine Weyers zu Wort. Sie verteidigt den 27-jährigen Jonathan M. und möchte einen Beweisantrag stellen. Weyers berichtet, dass ihr Mandant in einem anderen Verfahren vom Bundeskriminalamt (BKA) observiert wurde und es daher Aufnahmen gibt, die zeigen, wie er am 18. Oktober 2019 gegen 20.38 Uhr seine Berliner Wohnung verlässt. Demnach könne er unmöglich am 19. Oktober um 0.20 Uhr in Eisenach gewesen sein und sich am Überfall auf Ringl beteiligt haben, wie ihm vorgeworfen wird.

Einar Aufurth, der M. ebenfalls verteidigt, führt den Antrag weiter aus. Im anderen Verfahren sei auch ein Freund des Angeklagten telefonisch überwacht worden. Dieser habe am 18. Oktober um 23.03 Uhr ein Gespräch mit der Telefonnummer geführt, die BKA und Bundesanwaltschaft später Jonathan M. zugeordnet haben. In diesem Gespräch würden sich beide Personen für «in zwei Minuten» an der Revaler Strasse in Berlin verabreden, um wenig später in die Szenekneipe «Meuterei» in Berlin-Kreuzberg zu gehen. Aufnahmen aus der verdeckten Videoüberwachung von M.s Wohnung würden zeigen, so Aufurth, wie sein Mandant gegen 5 Uhr morgens «sichtlich angetrunken» mit dem Fahrrad zu seiner Wohnung zurückkehre.

«Mein Mandant hat zu besagtem Tatzeitpunkt einen netten Abend unter Freunden in Berlin verbracht», fasst Aufurth zusammen. «Das ist ein handfestes Alibi.» Und diese Erkenntnisse hätten sich bereits seit 2019 – lange vor Prozessbeginn – bei der Bundesanwaltschaft befunden.

Schon wieder ein Fauxpas

«Völlig egal, ob das Absicht oder ein Fehler war, es ist ein Riesenproblem», erklärt Aufurth der WOZ, «denn – das muss man der Bundesanwaltschaft unterstellen – es ist schlichtweg nicht mehr sichergestellt, dass sie ordentlich arbeitet.» Tatsächlich legt der Beweisantrag zwar den bisher grössten Ermittlungsfehler offen, aber längst nicht den ersten in diesem Verfahren. Bereits Mitte Januar musste Alexandra Geilhorn, die ermittelnde Bundesanwältin, erstmals einen Fehler in der Anklageschrift einräumen. Auch den neuerlichen Fauxpas hat sie indirekt schon bestätigt.

Im Gespräch mit der WOZ stützt Lina E.s Verteidiger Erkan Zünbül die Vorbehalte seiner Kolleg:innen. Es sei die Pflicht der Bundesanwaltschaft, objektiv zu ermitteln und auch Entlastendes in das Verfahren einfliessen zu lassen. «Viele der Tatvorwürfe beruhen auf einer einseitigen Interpretation möglicher Tatvorgänge», sagt Zünbül. An M.s Beispiel zeige sich, dass eine «Beweislastumkehr» stattfinde – dass statt der Unschuldsvermutung nun plötzlich die Verteidigung entlastende Beweise anführen müsse, um die Unschuld ihrer Mandant:innen darzulegen.

Auch für seine Mandantin sei das relevant – etwa beim Vorwurf, im Januar 2019 in Leipzig-Connewitz einen Kanalarbeiter angegriffen zu haben, der eine Mütze einer rechtsextremen Marke trug. Als Indiz gegen Lina E. wird hierbei ein Gespräch aus einem überwachten Auto angeführt, das ebenfalls «einseitig interpretiert» werde, wie Zünbül kritisiert. Zumal es sich dabei nicht einmal um ein von ihr selbst geführtes Gespräch handle, sondern eines ihres Verlobten. «Plötzlich sieht sich die Verteidigung gezwungen, Beweise in der Hauptverhandlung anzuführen, um das zu entkräften», so Zünbül. Die Bundesanwaltschaft will indes keine Stellungnahme zum Prozessgeschehen abgeben. «Ob und welche Schlüsse aus den durchgeführten Beweiserhebungen zu ziehen sind, bleibt unserem Schlussvortrag vorbehalten», erklärt Sprecher Markus Schmitt auf Nachfrage der WOZ.

Urteil frühestens im Mai

Ringls Aussagen vor Gericht erlauben derweil keine eindeutigen Schlüsse. Einerseits kann er sich an konkrete Uhrzeiten erinnern. Andererseits fallen ihm Merkmale zu den Angreifern nicht mehr ein, die er kurz nach der Tat noch bei der Polizei angegeben hat. Teilweise widerspricht er seinen ursprünglichen Aussagen und will Details zwei Jahre später besser wissen. Die Verteidigung bezichtigt ihn am Ende des ersten Tags seiner zweitägigen Vernehmung der Lüge vor Gericht. Der Staatsschutzsenat lässt sich davon aber nicht beeindrucken und hört ihn weiter an.

Keine der sechs angeklagten einzelnen Straftaten ist bisher ausverhandelt. Prozessbeobachter:innen gehen aber davon aus, dass es am Ende einen Schuldspruch geben wird. Mittlerweile ist jedoch mehr als fraglich, ob die Verurteilung so erfolgt, wie in der ursprünglichen Anklageschrift gefordert. Das Gericht plant ein Urteil auf Ende Mai, hat aber vorsorglich bis Ende Juni mögliche Prozesstage reserviert.