Ukraine: Von Diplomatie ist nicht mal mehr die Rede

Nr. 23 –

Eine diplomatisch ausgehandelte Beendigung des Krieges in der Ukraine, die einst möglich schien, rückt immer weiter in die Ferne. Im Gegenteil: Die Fronten verhärten sich weiter – aus mehreren Gründen.

Der Krieg gegen die Ukraine lässt sich nur durch eine zwischen Moskau und Kyjiw ausgehandelte Vereinbarung beenden. So lautet seit über drei Monaten das übereinstimmende Postulat der meisten Politiker:innen, Medien und Konfliktforschenden. Jedoch sind die Perspektiven für solche Verhandlungen derzeit ausgesprochen düster.

Dabei zeigten sich nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar zunächst beide Kriegsparteien verhandlungsbereit. Regierungsdelegationen aus Moskau und Kyjiw trafen sich mehrfach auf belarusischem Territorium oder kommunizierten online per Videokonferenz miteinander. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski formulierte bereits in der zweiten Kriegswoche öffentlich einige Konzessionsangebote. Bei den Verhandlungen der beiden Regierungsdelegationen am 29. März in Istanbul legte die ukrainische Seite gar einen schriftlichen Vorschlag auf den Tisch. Es lohnt sich, die insgesamt sechs Punkte nochmals detailliert festzuhalten:

1) Waffenstillstand; 2) Abzug aller russischen Invasionstruppen; 3) völkerrechtlich verbindliche Neutralitätserklärung der Ukraine, Verzicht auf Beitritt zur Nato und Verbot ausländischer Militärstützpunkte auf ukrainischem Territorium; 4) völkerrechtlich verbindliche Sicherheits- und Beistandsgarantien für die Ukraine durch eine Reihe anderer Staaten wie die USA, Grossbritannien oder Deutschland; 5) Einfrieren des derzeitigen Status der von Russland 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim für fünfzehn Jahre, um in dieser Zeit eine Vereinbarung über den künftigen Status der Halbinsel auszuhandeln; 6) direkte Verhandlungen zwischen Selenski und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über einen Sonderstatus für die beiden umstrittenen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk im Donbas.

Istanbuler Bereitschaft ist verflogen

Dieses Paket hätte für Putin eine Möglichkeit sein können, seine «spezielle Militäroperation» als zumindest teilweise erfolgreich zu verkaufen und damit gesichtswahrend zu beenden, waren sich damals viele Beobachter:innen des Kriegsgeschehens einig. Genährt wurde diese vorsichtige Hoffnung auch, weil der russische Delegationsleiter nach der Istanbuler Verhandlungsrunde zunächst ein positives Fazit zog. Doch schon bald erwies sich diese Hoffnung als Illusion, und inzwischen sind die Vorschläge längst Geschichte. Mehr noch: Seit mittlerweile über sechs Wochen wird überhaupt nicht mehr verhandelt.

Die Frage nach einer für Putin gesichtswahrenden Ausstiegsstrategie zur Beendigung des Krieges hat sich angesichts der weiterhin harten Rhetorik aus Moskau zumindest vorläufig erledigt. Aber auch die Äusserungen von Präsident Selenski und anderen Mitgliedern der ukrainischen Regierung klingen heute ganz anders als noch Ende März. Jetzt wird als Ziel der militärische «Sieg» über die Invasoren und die «vollständige Rückeroberung» aller vom Feind derzeit kontrollierten oder besetzten Teile des ukrainischen Staatsterritoriums beschworen. Die Formulierung schliesst neben den beiden «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk im Donbas und in den seit Kriegsbeginn von den russischen Truppen eroberten südlichen Küstenregionen am Asowschen Meer auch die 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim mit ein. Von der in Istanbul demonstrierten Bereitschaft, mit Moskau über einen Sonderstatus für diese Territorien zu verhandeln, ist keine Rede mehr.

Hoffen auf Ermüdungspatt

Zu dieser verhärteten Haltung der ukrainischen Regierung haben entscheidend die immer umfangreicheren Waffenlieferungen sowie die politische Unterstützung aus den Nato-Staaten beigetragen. So setzt etwa die Regierung von US-Präsident Joe Biden mit parteiübergreifender, grosser Unterstützung des Parlaments immer deutlicher auf einen «Sieg» der Ukraine, der über das vom Völkerrecht gedeckte Ziel einer Vertreibung aller russischen Invasionstruppen aus der Ukraine hinaus auch zu einer dauerhaften militärischen, wirtschaftlichen und politischen Schwächung Russlands führen soll.

In Europa werden ähnlich weitreichende Kriegsziele nicht nur von der britischen Regierung postuliert, sondern beispielsweise auch von der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock, Mitglied der einst pazifistischen, zumindest aber Militär- und Nato-kritischen Grünen Partei. Russland müsse «isoliert» werden, fordert Baerbock. Zudem betont sie die «Notwendigkeit» einer starken Nato und einer «glaubhaften nuklearen Abschreckung». Der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz hingegen beschreibt das Kriegsziel zurückhaltender: Die Ukraine dürfe «nicht verlieren».

Aber die vorsichtigeren Äusserungen des deutschen Kanzlers und einiger weniger anderer Politiker:innen in Hauptstädten von europäischen Nato-Mitgliedsländern führen bei der Regierung in Kyjiw keineswegs zur Mässigung, sondern zu scharfen Vorwürfen «unzureichender militärischer Unterstützung» für den von der Ukraine «auch für die Freiheit Europas» geführten Selbstverteidigungskrieg.

Unter diesen Rahmenbedingungen sind ernsthaft geführte Verhandlungen zwischen Moskau und Kyjiw vorläufig nicht zu erwarten. Erst nach vielen weiteren Monaten, im schlimmsten Fall Jahren des Krieges könnte es vielleicht zu einem militärischen Ermüdungspatt kommen und in der Folge zu ernsthafter beidseitiger Verhandlungsbereitschaft.