Femizide in Jordanien: «Könnte es jede von uns treffen?»

Nr. 31 –

Zwei Femizide haben diesen Sommer viele Frauen in Jordanien erschüttert. Die Debatte darüber führt zu einem Umdenken in der Gesellschaft.

Am 23. Juni wurde die 21-jährige Iman Rashid auf dem Campus ihrer Universität in der jordanischen Hauptstadt Amman erschossen – von einem Mann, dessen Avancen sie zuvor zurückgewiesen hatte. Und nur zwei Wochen später erstach ein Mann seine Frau vor einem Gericht in der Stadt Kerak im Süden des Landes. Die Welle der Gewalt führte zu Sitzblockaden vor dem Parlament und zu Protesten in den sozialen Medien.

«Die Morde passieren am helllichten Tag und verlagern sich damit zunehmend von der Privatsphäre in die Öffentlichkeit. Dies hat unter Frauen zu Angst und Verunsicherung geführt», sagt Ghaida al-Saket vom feministischen Kollektiv Takatoat (zu deutsch: Intersektionen). «Könnte es jede von uns treffen? Während wir über die Strasse gehen, öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder im Supermarkt einkaufen?» Frauen hätten zunehmend das Gefühl, es gebe für sie keinen sicheren Raum, weder in der Familie noch in der Öffentlichkeit, so Saket.

Keine offizielle Statistik

In Erinnerung geblieben ist der jordanischen Öffentlichkeit der brutale Mord vor zwei Jahren, als die vierzigjährige Ahlam von ihrem Vater auf offener Strasse mit einem Steinbrocken erschlagen wurde. Offenbar fand er, sie bringe «Schande» über die Familie. Ahlam hatte angeblich eine uneheliche Beziehung geführt. Ihre Schreie und der Mord waren auf Video festgehalten worden.

Solche Femizide werden oft als «Ehrenmorde» beschrieben, weil das Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre ist, die infolge des «unehrenhaften» Verhaltens der Frau angeblich beeinträchtigt wurde. Der Spielraum für Interpretationen ist dabei breit: Unter ein solches Verhalten können die unerlaubte Eröffnung eines Facebook-Kontos oder eine aussereheliche Beziehung fallen, wenn die Frau Opfer einer Vergewaltigung wird oder das Haus ohne Erlaubnis verlässt.

Eine «beschmutzte» Familienehre sei deswegen ein Problem, sagt Saket, weil dadurch etwa die Heiratschancen anderer weiblicher Familienmitglieder gemindert oder verunmöglicht würden. Und das in einer Gesellschaft, die die Rolle der Frau in erster Linie auf jene der Ehefrau und Mutter beschränkt.

Offizielle Statistiken zu Femiziden in Jordanien existieren nicht. Die Organisation Human Rights Watch schätzte 2017, dass jedes Jahr zwischen fünfzehn und zwanzig Mädchen und Frauen von Familienmitgliedern verbrannt, erwürgt oder erstochen werden. Das ist mindestens ein Frauenmord jede dritte Woche.

Die relativ hohe Rate an Frauenmorden erklärt sich teilweise durch das jordanische Strafrecht, das aus der europäischen Kolonialzeit stammt und Tätern bei häuslicher Gewalt milde Strafen gewährt. So kann das Strafmass gesenkt werden, wenn die Familie des Opfers – die in diesen Fällen oftmals auch die Familie des Täters ist – beschliesst, auf die Rechte des Opfers zu verzichten und keine juristischen Schritte einzuleiten. Oder wenn die Verteidigung des Angeklagten argumentiert, dass die Tat im Affekt begangen wurde und der Täter aus Wut darüber handelte, dass Scham über seine Familie gebracht wurde.

«In den letzten Jahren haben die Gerichte jedoch angefangen, die Verbrechen gründlicher zu untersuchen und die Täter strenger zu bestrafen», sagt Rana Husseini, die vor Jahrzehnten als erste Journalistin anfing, ausführlich über Frauenmorde im Königreich zu berichten. Aufgrund ihrer Arbeit und des Kampfes einer breiten Allianz von Frauenrechtsorganisationen, Anwält:innen und anderen Journalist:innen wurden in den letzten Jahren bestimmte problematische Artikel des Strafgesetzbuchs abgeschafft: Artikel 340 etwa, der Strafminderung oder Straffreiheit für einen Täter garantierte, wenn er seine Frau oder eine weibliche Verwandte beim Ehebruch erwischte und anschliessend tötete oder verletzte. 2017 hatte das Parlament auch Artikel 308 gestrichen, der es Sexualstraftätern ermöglichte, einer Strafe zu entgehen, wenn sie ihre Opfer heirateten.

Wenig Sympathien für Betroffene

In der Gesellschaft gebe es zwar nach wie vor viel Sympathien für die Täter und nur wenig für die Opfer, sagt Saket vom feministischen Kollektiv Takatoat. Derweil fangen allerdings immer mehr junge Frauen an, die patriarchalen Strukturen, die Gewalt gegen Frauen fördern, grundsätzlich infrage zu stellen. Als sich Takatoat 2020 gründete, erzählt Saket, seien sie von Hunderten Anfragen und Mitgliederanträgen überrannt worden. Einstellungen hätten sich geändert, auch bei Männern, bestätigt die Journalistin Rana Husseini: «Als ich anfing, über Femizide zu berichten, wollte niemand etwas davon wissen, und die Leute verhielten sich mir gegenüber aggressiv. Heute sind die Menschen offener.»

Trotzdem bleibt die Akzeptanzrate für «Ehrverbrechen» in der Gesellschaft hoch – gerade auch bei der jüngeren Bevölkerung. Gemäss einer Umfrage des Forschungsnetzwerks Arab Barometer von 2019 gaben 32 Prozent der Jordanier:innen zwischen 18 und 34 Jahren an, «Ehrverbrechen» seien akzeptabel.