Kommentar von Raphael Albisser: In der Hand der Autokraten

Nr. 31 –

Inzwischen müsste eigentlich auch der Markt den Ausstieg aus den fossilen Energien vorantreiben.

Plötzlich sprechen wir über Einschränkungen, über Verzicht. Wie viel Gas dürfen wir zum Heizen und Kochen brauchen? Haben Industriebetriebe oder Privathaushalte Vorrang? Wie kalt kann eine Wohnung im Winter sein? Plötzlich ist auch wieder von «Solidarität» die Rede: von «Solidaritätsabkommen» mit den Nachbarländern, um sich in der kalten Jahreshälfte gegenseitig zu unterstützen, wenn die Erdgasspeicher sich leeren. Oder von einer «solidarischen Kontingentierung», wie sie Economiesuisse für die Wirtschaft fordert.

Es sind Debatten, die in der bürgerlichen Schweiz so nicht vorgesehen sind. Wer hier lebt, soll üblicherweise so viel verbrauchen dürfen, wie er sich leisten kann. Alles andere wird als illiberal oder totalitär gebrandmarkt.

Welch bittere Ironie, dass es nun Autokrat Wladimir Putin ist, der mit der Hand am Gashahn über Europas Energieverbrauch mitbestimmt. Indem er die Erdgasmenge, die durch die Ostsee nach Deutschland fliesst, auf ein Fünftel gedrosselt hat, deckelt er den Verbrauch in Teilen des europäischen Netzes. Während in die Gegenrichtung noch immer Milliarden in seinen Staatshaushalt fliessen, droht Putins Kalkül auch in Europa aufzugehen: Für die Wintermonate zeichnen sich Verteilkämpfe ab. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten, die sich zwar zu einem Notfallplan durchgerungen haben, der aber erst noch funktionieren muss. Und genauso innerhalb der Staaten, die sich verpflichtet haben, einen Teil ihres Gasverbrauchs einzusparen. Das Konfliktpotenzial ist gross.

Es ist der Preis, den Europa für seine Abhängigkeit von fossilen Energieträgern bezahlt. Und von Putins Regime, dessen Macht kaum denkbar wäre ohne die Milliardeneinnahmen aus Öl- und Gasexporten der letzten Jahrzehnte. Es erklärt sich von selbst, dass Selbiges auch für die autokratischen Golfmonarchien gilt.

Dabei wissen wir seit Jahrzehnten: Wir müssen dringend raus aus der fossilen Energie. Auch dieser Sommer zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Klimakatastrophe da ist – nicht als Schreckgespenst am Horizont, sondern in Form erdrückender Hitzewellen, anhaltender Dürren, unkontrollierbarer Waldbrände und zerstörerischer Sturmfluten. Der Schweiz wird überdies vor Augen geführt, dass die Klimaerhitzung auch die Energieproduktion tangiert: In manchen Stauseen droht wegen der Trockenheit Wassermangel, obwohl die Alpengletscher im Rekordtempo schmelzen. Das AKW Beznau musste den Betrieb einschränken, weil das Kühlwasser aus der Aare zu warm ist. Und der Erdölimport über den Rhein wurde durch den niedrigen Pegelstand erschwert.

Vor diesem Hintergrund ist es eine Frage der Vernunft, den Ausstieg aus fossilen Energien mit entschiedenen Massnahmen voranzutreiben. Ihm haftet immer noch das Etikett der Ideologie an, das Etikett des verblendeten Gutmenschentums. Bloss keine Einschränkungen und Verbote, lautet stattdessen die Maxime; bloss keine Gefährdung von Wachstum und Wohlstand – denn am Ende werde es selbstverständlich der Markt richten. Seit Jahren haben die Marktideolog:innen die Oberhand in der Debatte. Doch inzwischen sei die Frage erlaubt: Wie lange braucht der Markt denn noch für den Ausstieg?

Wir könnten gesellschaftlich darüber befinden, wofür es sich lohnt, Energie zu verbrauchen. Welche Formen von Produktion und Konsum angemessen sind, wie viel verschwenderischen Luxus wir als zulässig empfinden. Über Modelle, wie sich ein klimaverträglicher Umbau von Industrie-, Transport- und Wohninfrastruktur fair finanzieren liesse. Entsprechende Vorlagen lagen in der Vergangenheit immer wieder auf dem Tisch, wurden aber verworfen, abserviert oder verwässert, im Wahlkampf torpediert und an der Urne versenkt. Gerne mit dem Totschlagargument, effektive Klimamassnahmen seien totalitär und unschweizerisch. Womit wir wieder bei der aktuellen Situation wären, in der tatsächlich ein Autokrat darüber entscheidet, wie viel Gas wir zum Verbrennen erhalten.