Clubmusik in Ghana: Den Dancefloor dekolonisieren

Nr. 33 –

Auf Oroko Radio wird wohl bald das nächste Trendgenre zu hören sein. Das Onlineradio aus Accra sendet Musik afrikanischer DJs und Musiker:innen in die Welt und versucht, die Szene auf dem ganzen Kontinent zu stärken.

Kikelomo legt bei einer Party im Freedom Skatepark in Accra auf
Kikelomo legt bei einer Party im Freedom Skatepark in Accra auf.

Der Song beginnt mit einem rhythmischen Rasseln und einem simplen Beat mit 113 BPM, viel langsamer als House oder Techno. Das verträumte, flächige Synthmuster im Hintergrund erinnert eher an Ambient als an Clubmusik – bis zum Moment, in dem die Bassline einsetzt. Eine Bassline, deren digitale Klänge der afrikanischen Log Drum nachempfunden sind und den Track sofort als Amapiano ausweisen. Amapiano wird meist nach demselben Muster und mit derselben Software in südafrikanischen Studios und Schlafzimmern produziert, seine Intros sind sich manchmal zum Verwechseln ähnlich. An diesem Abend ist es der langsam aufbauende Track «Sandton» von DJ Maphorisa, der in ohrenbetäubender Lautstärke von der Luna Rooftop Bar aus in die heisse, stickige Nachtluft des Flughafenviertels von Accra schallt.

Amapiano ist einer der momentan am meisten gehypten Stile der Clubmusik und läuft überall. Mal sind es Songs aus der südafrikanischen Geburtsstätte des Genres wie «Sandton», in denen auf Zulu gesungen oder gerappt wird, mal gefällige Popadaptionen aus Nigeria, wie der Song «Monalisa» oder das im Frühjahr allgegenwärtige «Ameno Amapiano», ein Remake des Neunzigerhits der New-Age-Band Era. Amapiano dröhnt in Ghana aus Autoradios und den Boxen einfacher Pubs, aber auch aus schicken Clubs wie dem «Luna». Man hört die charakteristischen Log-Drum-Beats an Partys in Kapstadt, Paris oder New York genauso wie auf Onlineradios wie den englischen Sendern NTS oder Foundation FM. Oder auf Oroko Radio, das seinen Sitz in Ghanas Hauptstadt hat und seit Januar mit einem kontinuierlich wachsenden Programm an mehreren Tagen pro Woche sendet.

Berlin, Vilnius, London

Eine der Sendungsmacher:innen und Oroko-Residents ist TMSKD DJ. Die ghanaische DJ trifft kurz nach neun Uhr im «Luna» ein und bestellt sich an der Bar einen Energydrink, da sie später noch hier auflegt. Ähnlich wie in ihrer Sendung wird sie auch an diesem Abend vorwiegend Amapiano und House spielen. Allerdings erst zu späterer Stunde, wenn das «Luna» gefüllt ist mit den Schönen und Reichen von Accra, die Designerkleidung, Lederschuhe und Goldschmuck tragen, die vom Türsteher mit dem kritischen Blick eingelassen wurden – und die sich die stolzen Preise für Cocktails und Shishas hier oben leisten können. TMSKD legt mehrmals pro Woche an Orten wie dem «Luna» auf, hier werden verhältnismässig hohe Gagen bezahlt, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdient.

TMSKD DJ steht für «The Masked DJ»: Die Künstlerin hat sich angewöhnt, stets mit einer Maske aufzulegen – am Anfang, weil sie schüchtern war. «Ich wollte nicht vollständig der Aufmerksamkeit ausgesetzt sein, die man während des Auflegens bekommt», erzählt sie. Heute ist die Maske ihr Markenzeichen. TMSKD, die seit knapp neun Jahren auflegt und kürzlich ihren ersten eigenen Song veröffentlicht hat, gehört zu Accras erfolgreichsten DJs. Sie hat sich schon vor der Pandemie einen Namen gemacht und wird seit der Wiedereröffnung der Clubs Anfang des Jahres oft gebucht. Ihr gegenwärtiger Erfolg habe aber auch mit Oroko zu tun, meint sie, für das die DJ in den vergangenen Monaten an verschiedenen Anlässen auftrat, Workshops leitete und Interviews gab.

tanzende Menschen bei einer Party im Freedom Skatepark in Accra
Es gehe bei Oroko Radio darum, «alles an einem Ort zusammenzuführen», sagt die Mitbegründerin.

Eine Plattform bieten und Menschen vernetzen – das seien zwei der Ziele von Oroko Radio, sagt Nico Adomako. Er gehört zu den Gründer:innen von Oroko Radio und schaltet sich gemeinsam mit seiner Kollegin Kikelomo für ein Gespräch mit der WOZ zu. Die beiden DJs befinden sich gerade in Berlin, wo sie am vergangenen Wochenende gespielt haben und von wo aus Adomako noch am selben Abend für einen Gig nach Vilnius fliegt; Kikelomo tags darauf nach London. Beide haben mittlerweile ein Standbein in Ghana, sind aber in Berlin respektive London aufgewachsen. Aufgelegt haben sie in Clubs auf der ganzen Welt, und dank Erfahrungen mit Formaten wie der Onlineplattform «Boiler Room» oder dem Berliner DJ-Kollektiv Einhundert kennen sich die beiden auch mit Onlineradios und Community Building bestens aus.

In den über hundert Formaten auf Oroko Radio wird vorwiegend Musik gespielt, darunter viel Elektronika vom afrikanischen Kontinent. Bald soll es auch einen Tag geben, an dem ausschliesslich Diskussionssendungen ausgestrahlt werden. Oroko verfolgt keine stilistische Linie, sondern will afrikanische Künstler:innen fördern, die Musik abseits des Mainstreams spielen und produzieren. Etwa die Hälfte der Sendungsmacher:innen sollten aus Ghana selbst kommen, weitere dreissig Prozent auf dem afrikanischen Kontinent zu Hause sein, die restliche Sendezeit ist für Künstler:innen der Diaspora vorgesehen, deren Vorfahren aus Afrika stammen.

Panafrikanische Vision

Abgesehen von der Musik und dem geografisch-kulturellen Fokus geht es bei Oroko auch um die Bildung einer Gemeinschaft. Die Gründer:innen wollen die Vernetzung der Künstler:innen untereinander fördern, aber auch jene zwischen DJs, Partyorganisator:innen, Publikum oder Labels. Eine richtige Musikszene ist in Accra erst am Entstehen. Gefeiert wird zwar überall mit ähnlicher Musik, aber getrennt nach Klassen und Vierteln. Und wer nicht den üblichen Einheitsbrei hören möchte, wird es schwer haben, ohne Kontakte die guten Partys zu finden. Es sei alles noch in Arbeit, sagt auch TMSKD. «Initiativen wie Oroko oder ‹Where are the Women› haben gerade in letzter Zeit einiges dazu beigetragen, junge Menschen und Frauen zu fördern.» «Where are the Women» ist eine Initiative, die Frauen in der Musik- und der Kreativbranche fördert.

Das Oroko-Team führt regelmässig DJ-Workshops durch, etwa für Schulkinder oder junge Mädchen und Frauen. Ausserdem planen die Radiomacher:innen, in Zukunft auch Veranstaltungen und Pop-up-Studios in anderen afrikanischen Ländern zu organisieren. Man wolle den Austausch auf dem ganzen Kontinent fördern und «alles an einem Ort zusammenführen», so Kikelomo: Menschen aus unterschiedlichen Kontexten und Szenen verbinden, die Musik produzieren, auflegen und konsumieren, sie untereinander vernetzen. Eines der Vorbilder ist das ugandische Kollektiv Nyege Nyege, dessen Label progressive Musik vom afrikanischen Kontinent veröffentlicht und das dank seiner Partys und eines jährlich stattfindenden Festivals über den Kontinent hinaus bekannt ist.

Trotz der panafrikanischen Vision lehnen Adomako und Kikelomo essenzialisierende Begriffe wie «afrikanische Clubmusik» entschieden ab. «Es spricht ja auch nie jemand von ‹europäischer Clubmusik›», sagt Kikelomo. Die Vielzahl unterschiedlicher Musikstile und Künstler:innen etwa aus Kenia, Uganda, Nigeria, der Karibik oder England soll helfen, diese Vorurteile abzubauen, hoffen die Oroko-Gründer:innen.

Sie fordern eine Dekolonisierung – nicht nur der Sprache, sondern auch des Dancefloors. «Ich glaube, man sollte ein Auge darauf haben, wer Sounds aus Afrika exportiert, wer sie spielt und wer letzten Endes davon profitiert», sagt Kikelomo und verweist auf die Tatsache, dass es bis vor einigen Jahren noch üblich war, dass weisse DJs in Europa die gerade im Trend liegende Musik aus Afrika – mal Kuduro aus Angola, mal Gqom aus Südafrika – einem weissen Publikum vorspielten. Heute werden vermehrt Produzent:innen ebenjener Sounds, wie gegenwärtig Amapiano, direkt gebucht. «In den letzten Jahren hat sich auf jeden Fall einiges zum Besseren verändert», sagt auch Kikelomo, gibt aber zu bedenken, dass die Möglichkeit für internationale Bookings nach wie vor mit zahlreichen Hürden verbunden ist. «Für mich, die nicht nur einen nigerianischen, sondern auch einen britischen Pass besitzt, ist es sehr viel einfacher, auf dem afrikanischen Kontinent zu touren, als umgekehrt etwa für eine Person mit ghanaischem Pass in Europa.»

Die Tatsache, dass drei der vier Gründer:innen von Oroko nicht in Ghana geboren worden sind, habe bisher nicht für Kritik gesorgt, sagt Kikelomo. Es herrsche aber eine gewisse Skepsis innerhalb der kreativen Szene, wenn Leute, die im Westen sozialisiert wurden, Projekte wie Oroko ins Leben rufen. Berechtigt, finden die Oroko-Gründer:innen. «Ich betrachte mich selbst zwar als genauso afrikanisch wie europäisch», sagt Kikelomo, deren Eltern in Nigeria aufwuchsen. Es sei aber wichtig, sich der eigenen Privilegien bewusst zu sein.

Wo sich Beyoncé bedient

Doch wie afrikanisch ist eigentlich die Idee eines Onlineradios? Ist das nicht vielmehr ein westliches Konzept? «Nein», widersprechen beide. Kikelomo betont die Niederschwelligkeit des Mediums. Und Adomako setzt nach: «Der Einfluss des Radios in Afrika ist riesig, etwa in der Politik: Ohne das Radio kannst du keine Wahl gewinnen.» Tatsächlich ist das Radio weltweit nach wie vor das am meisten konsumierte Massenmedium. Dass das Radio auf dem afrikanischen Kontinent ein zentraler Kommunikationskanal ist und verschiedenste Funktionen, darunter auch beim Nation oder Community Building, erfüllt, zeigen historische Beispiele: Revolutionäre Gruppen im südlichen Afrika mobilisierten über verschiedene Piratensender gegen die Kolonialmacht, und in Ruanda verbreitete sich die Hasspropaganda während des Bürgerkriegs ebenfalls über den Rundfunk. Durch das Radio werden seit jeher nicht nur Musik, sondern auch Ideen verbreitet, und die Hörer:innen stehen nicht nur in Verbindung zur Person, die Radio macht, sondern auch zu den anderen Hörer:innen – was ein Gefühl der Zugehörigkeit schaffen kann.

Dass Oroko Radio keine FM-Lizenz hat und nur online sendet, sehen die Gründer:innen nicht als Problem, sondern als Weiterentwicklung des Mediums. «Wir erreichen so Menschen auf der ganzen Welt», sagt Adomako. Wenn alles klappt, wird Oroko auf dem Gelände des Freedom Skateparks in Accra bald ein physisches Studio eröffnen. Dort sollen Workshops stattfinden, ein Treffpunkt entstehen und vor allem lokale DJs und Hosts ihre Mixes live in die ganze Welt senden.

Mit Sicherheit wird auf Oroko auch schon bald das neuste Trendgenre des afrikanischen Kontinents mit Mainstreampotenzial zu hören sein. Bis Amapiano abgelöst wird, könnte es allerdings noch eine Weile dauern, glauben Nico Adomako und Kikelomo. «Es wird spätestens dann so weit sein, wenn die Amis ihre Version davon produziert haben», sagt Adomako lachend. «Warts ab, bald machen auch Beyoncé oder Rihanna Amapiano.»

Hörenswerte Sendungen auf Oroko:

«Alté Ave» mit Kirani AYAT (Accra): www.oroko.live/artists/kirani-ayat

«Making the House» mit Zagaza (Lausanne): www.oroko.live/artists/zagaza

«Ché Radio» mit DJ ICHE (Mombasa): www.oroko.live/artists/djiche